Ben's Kommentar

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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Samstag, Oktober 30, 2010

Der Tag, an dem die Alliierten landeten

Ein kleiner Hügel irgendwo in der Normandie, der Abend legt sich langsam über die Welt. Dort draußen geht ein gewöhnlicher Bauer ruhig seiner Arbeit nach. Er weiß zwar, dass um ihn herum Krieg ist, doch ist ihm dies egal, da von Kriegshandlungen auf seinem Hof bisher nichts zu spüren war – allerhöchstens mal der ein oder andere Wehrmachtssoldat, der auf der nahegelegenen Straße vorbeizog. Das Land ist besetzt, doch es herrscht insofern Frieden, als dass keine offenen Gefechte ausgetragen werden. Was kümmert ihn schon die Weltpolitik? Doch dies wird sich in einigen Stunden ändern, denn die Alliierten Streitkräfte, deren Invasionsschiffe er heute von einem Küstenvorsprung gesehen hat und die sich auf eine Rückeroberung des Landes vorbereiten, werden in wenigen Stunden das Land erreichen. Dann wird der Krieg stärker in die Realität des Bauern treten. Er weiß noch nicht, was dies für ihn direkt bedeutet. Wird er nur die Schüsse aus der Ferne hören oder werden auch auf seinen Feldern Kämpfe ausgetragen? Werden die Soldaten gar seinen eigenen Hof zum Kriegsschauplatz verwandeln? Er weiß es nicht.

In den letzten fünf Jahren seit meiner Diagnose habe ich hier in meinem Blog das Thema HIV fast nie aufgegriffen. Zurecht, denn es war auch in meinem Leben nicht von tragender Bedeutung. Vielmehr kam es als Fußnote der eigenen Memoiren daher. Nichts von Bedeutung, nichts, worum man Aufsehens machen müsste. Dennoch habe ich mich dazu entschlossen, heute dieses Thema aufzugreifen, da diese Woche in gewisser Weise eine Zäsur darstellt: Ich habe die antiretrovirale Medikamententherapie begonnen.

„Ich denke, es wäre ratsam, nun mit einer Therapie zu beginnen,“ dieser Satz sitzt, wenn man ihn hört. Auch wenn es keinen akut gefährdenden Anlass gibt, so macht dieser Satz Angst, da er eine gewisse Endgültigkeit mit sich bringt. Es ist nun soweit, die nächste Ebene ist erreicht und man hofft, dass man in diesem „Level“ möglichst lange verharre, wissend, dass das nächste um einiges schwerer werden wird. Vor etwa sechs Wochen hatte ich diesen Rat entgegengenommen und um Bedenkzeit gebeten, da dies keine Entscheidung ist, die man ad hoc in einer Arztpraxis fällen sollte. Geht es schließlich darum, sich für oder gegen den Einsatz hochchemikalischer Medikamente zu entscheiden. Dass dieser Tag irgendwann kommen würde, war einem seit jeher klar, doch ist es ein Unterschied, wenn er vor einem steht.

In fünf Jahren habe ich viel erlebt, viel Unterstützung, kaum Ablehnung. Weniger aus eigenem Impuls heraus habe ich über dieses Thema gesprochen. Allerdings bedingt es, dass man irgendwie doch immer wieder darüber spricht und es immer wieder aufs Tapet kommt. Dann heißt es aufklären, anderen Menschen die Vorurteile und Ängste nehmen, immer gleiche Fragen zu beantworten und Sorgen zu entkräften. Im Gegensatz zu manch Anderem hatte ich das große Glück, eine Stigmatisierung oder einen gesellschaftlich-sozialen Ausschluss nicht erleben zu müssen. Gerade deshalb war es auch so einfach, dem Ganzen keine allzu große Bedeutung beizumessen. Relevanz hatte es nur in den Situationen, die man sowieso nicht im öffentlichen Raum ausbreitet.

Ich bin von meinem Umfeld oft dafür bewundert worden, wie ungezwungen ich mit diesem Thema umgehe. Vieles von dem Gesagten entbehrt auch nicht der Gütigkeit. Doch gab es auch eine andere Seite: Das hochgradig unvernünftige Ausblenden der Tatsachen. Aufgeschobene Arztbesuche, der Prokrastination anheimgefallen, das Nicht-wissen-wollen, die Angst zum Sklaven des eigenen Blutbildes zu werden. Was sollen mir zwei Werte schon sagen? Ich lebe und ich lebe gut – warum sich also sorgen? Man spürt nichts, der Körper erinnert einen nicht daran, was Sache ist und so bedarf es dann manchmal eines älteren Freundes, der einen unter Tränen darum bittet, doch nicht so unverantwortlich mit sich selbst umzugehen, da er schon habe Leute genau an den Folgen solcher Unverantwortlichkeit habe sterben sehen. Das nimmt einen schon mit und bewirkt, dass man dann doch vernünftig wird, sich wieder untersuchen lässt. Wenn sich jedoch dann herausstellt, dass soweit noch alles in Ordnung ist, dann beginnt es wieder, dieses langsame Sich-gehen-lassen. Natürlich sagt die Ratio einem, dass es nicht richtig ist – doch diese weiß man auch in anderen Situationen, etwa dem Rauchen auszublenden. Der Mensch ist zwar ein vernunftbegabtes Wesen, jedoch auch fähig, sich über selbige hinwegzusetzen. Das erst macht ihn menschlich.

Doch damit ist nun Schluss, nun kommt eine Zeit der Kontinuität. Jetzt tritt das Thema mindestens einmal täglich in Form kleiner, bunter Helferlein in Erscheinung. Der Tod schickt allabendlich eine Ansichtskarte aus der Ferne. Ab jetzt wird die Herausforderung nicht mehr darin liegen, die Unvernunft mittels der Ratio zu bekämpfen, sondern nun geht es darum, aus diesem stetigen „memento mori“ des Abends, ein „carpe diem“ des darauffolgenden Tages zu machen. Hinsichtlich des Gelingens dieser Aufgabe bin ich zuversichtlich und nehme sie gerne an. Schließlich liegt hierin das Potential das Leben ganz anders und viel bewusster wahr zu nehmen als bisher.

Hinzu kommen allerdings auch die Kollateralschäden dieses Kampfes. Auch wenn ich in den ersten Tagen keine besonders belastenden Nebenwirkungen verspüre, so doch genau die, die mich am ehesten belasten. Während der leichte Schwindel nach der Einnahme eher dem letzten Glas Rotwein, dass man zu viel getrunken hat, gleicht noch als recht amüsante Erscheinung daher kommt, so lassen mich andere Begebenheiten eher ins Grübeln kommen. Die Mattheit, die kleinen Aussetzer in der Konzentration und dieses Gefühl, als habe man die Nacht zuvor kräftig gefeiert. Man fühlt sich schlapp und es bedarf einiges mehr an Kraft, die vor einem liegenden Aufgaben zu bewältigen. Die Arbeit leidet zwar inhaltlich nicht darunter, jedoch ist man danach erschöpfter. Es bedarf eines größeren Aufwandes, das eigene Denken zu sortieren, gegen die latente Müdigkeit anzugehen. In den ersten Tagen ist mir dies gelungen und ich werde auch eine Weile noch gut dagegen angehen können. Bis dahin, so heißt es, würden diese Nebenwirkungen auch nachlassen. Dennoch die Angst: Was, wenn nicht? Hat man die Energie, diese Kraft über Monate oder Jahre aufzubringen? Was, wenn sich jetzt für allezeit ein Schleier über die sonst so klaren Gedanken legt? Jemandem wie mir, der den Körper immer nur als notwendige Verpackung des Geistes gesehen hat und sein ganzes Selbst auf Letzterem begründet hat, bereitet dies Sorgen. Doch will ich diesen Bedenken vorerst nicht so viel Raum geben und erst einmal abwarten, was in den nächsten Wochen so passiert.

In einem Monat ist Welt-Aids-Tag, das alljährliche Ritual. Die Medien werden das Thema aufgreifen, Menschen werden sich rote Schleifen ans Revers heften und die ganze Welt richtet ihre Augen betroffen auf ein Thema, dass sie ein paar Tage später am Glühweinstand der Weihnachtsmärkte schon wieder vergessen hat. Bis dahin wird sich auch für mich einiges Verändert haben. Der Alltag fordert seinen Tribut und lässt die nun akuten Gedanken zunehmend an Brisanz verlieren. Dann geht das Leben weiter, anders als bisher, jedoch deswegen nicht unbekümmerter. Es gibt ein tägliches Ritual mehr – nicht mehr, nicht weniger.

So legt sich der Bauer abends schlafen, die fernen Schüsse hörend. Einerseits beruhigt, dass nun die rettende Verstäkung eingetroffen ist, dennoch auch besorgt; doch hoffend, dass sein Hab und Gut nicht zu oft ins „friendly fire“ gerät.

Sonntag, Oktober 24, 2010

Bonn vs Berlin: Ein etwas anderer Nachruf

Der Tod von Loki Schmidt hat mich sehr betroffen gemacht und mein Mitgefühl gilt ganz besonders Helmut und Susanne Schmidt, denen ich nun die Kraft wünsche, derer sie in diesen dunklen Stunden bedürfen. Gerne würde ich nun hier einen Nachruf auf Loki schreiben, sehe mich jedoch außerstande dies zu tun, da ich diese Frau nicht persönlich kannte. Mag heißen, es gibt genug andere Menschen, denen diese Aufgabe eher zukäme.

Deswegen gilt der Nachruf, den ich nun zu schreiben gedenke nicht ihr, jedoch hat ihr Tod ihn insofern initiert, dass mir bei den damit einhergehenden Rückblicken etwas anderes bewusst geworden ist: Die derzeit gefühlte politische Schieflage hat damit zu tun, dass wir unser Politikverständnis der vorliegenden Gegenwart noch nicht ausreichend angepasst haben und somit die „Berliner Republik“ immer noch in den Kategorien der „Bonner Republik“ zu greifen versuchen. Daher nehme ich diesen Impuls nun zum Anlass einen „Nachruf auf die Bonner Republik“ zu verfassen.

Die Bonner Republik existierte bis zum für alle Deutschen wohl überraschensten Ereignis der gesamtdeutschen Geschichte: Dem Fall der Mauer am 9. November 1989. Ab diesem Zeitpunkt war klar, dass nun ein neues Zeitalter angefangen hatte. Doch auch, wenn wir im Rückblick auf die letzten 20 Jahre von der Berliner Republik sprechen, so will ich behaupten, dass diese nur insoweit existent ist, als dass sie als begriffliche Abgrenzung zur alten BRD dient. Denn was machte die letzten beiden Jahrzehnte aus?

Die 90er Jahre waren bis zur Abwahl Helmut Kohls im Jahre 1998 eine Zeit der Umbruchs einerseits und der Stagnation andererseits. Der Umbruch, bedingt durch die deutsche Einheit, verlangte der Politik ab, dass sie fast schon unmöglich zu lösende Probleme zu bewältigen hatte: der Umzug nach Berlin, die politische und mehr noch wirtschaftliche Zusammenfügung der beiden Teilstaaten, die Förderung eines Aufschwungs Ost, die Bewältigung der Vergangenheit sowie die Positionierung innerhalb eines gerade erst entstehenden gesamteuropäischen Gefüges. Es ist verständlich, dass dadurch eigentlich ebenso wichtige Fragen, die die BRD eigentlich damals hätte bewältigen müssen, wäre der Mauerfall nicht gewesen, liegen blieben: Fragen der Gesundheits- und Rentenpolitik und Reformen im Sozialsystem, um nur einige Aspekte zu nennen.

Dann kam die Ära Schröder, die eben diese Probleme durch einen Politikwechsel zu lösen versprach, was ihr in Ansätzen auch gelungen ist. Doch drehte die Welt sich weiter und es kamen neue Herausforderungen auf das neue, vereinte Deutschland hinzu. Das Jahrzehnt der 00er, die Engländer nennen es „the Noughties“, war eine Dekade, die wirklich eine symbolische Repräsentanz in der Null findet. Ein durch Krisen dominiertes Jahrzehnt, sei es wirtschaftlich (von Internetblase bis zur Finanzkrise) als auch politisch (Stichwort: 11. September). Auch hier erwuchsen Probleme, die dringender waren als eine gründliche Selbstfindung des neuen Deutschlands.

Somit stehen wir heute an einem Punkt, an dem so vieles paradox erscheint, weil wir noch nicht in der Berliner Republik, die ganz anders funktioniert als der Bonner Vorgänger, angekommen sind und immer noch – gerade auch in den Medien – in Bonner Kategorien denken. Um nur einige dieser Paradoxien zu benennen, die natürlich nicht nur darauf zurückzuführen sind aber auch, dies Tatsache des Nichtangekommenseins jedoch verdeutlichen: Erstmalig scheint eine Regierung sich nicht zurücklehnen zu können, wenn die Wirtschaft boomt, erstmalig ist es auch so, dass die Umfragewerte eines Außenministers fast die schlechtesten innerhalb der Regierung sind und erstmalig fordert ein liberaler Politiker Lohnerhöhungen. Dies sind nur einige Indikatoren, die anzeigen, dass die politische Klasse (und dies nicht nur seit gestern) mit einer gewissen Orientierungslosigkeit zu kämpfen hat. Das Stystem scheint aus den Fugen.

Ich möchte nun versuchen, es kann nur beim Versuch bleiben und ist natürlich aller Vollständigkeit entbehrend, einige Aspekte aufzuzeigen, die unser demokratisches Gefüge – so wie wir es in der Bonner Republik kannten – verändert haben:

a) Elder Statesmen und parlamentarische Rivalen in Absentia
Der Staatsmann nach alter Tradition hat ausgedient. Es gibt sie nicht mehr, die elder statesmen. Es ist auch fraglich, ob diese in der heutigen Politik überhaupt noch eine Berechtigung haben. So kommt es, dass die Begeisterung, die ein Karl-Theodor zu Guttenberg auslöst, fast schon als letztes, anachronistisch-nostalgisches Aufbäumen hinsichtlich dieser nicht mehr existenten Vaterfiguren erscheint. Die Gediegenheit von Figuren wie Konrad Adenauer, Willy Brandt oder auch noch Helmut Schmidt ist passé. Heute bedarf es anderer Qualitäten auf dem politischen Parkett. Der Umgang mit den Medien, die rasante Geschwindigkeit der Entwicklung auf sämtlichen politischen Feldern und die dafür nötige Flexibilität verlangen den zeitgenössischen Politikern ganz andere Fähigkeiten ab. Allerdings habe ich das Gefühl, dass wir alle dies noch nicht zu Genüge verinnerlicht haben und diese Leitfiguren noch immer suchen. Auch innerhalb des Parlamentes fehlen die Führungsfiguren und es kommt nicht mehr zu Debatten wie in den Zeiten von Wehner und Strauß. Die Parteien wirken wie Mannschaften ohne Spielführer und in der Kakophonie parlamentarischer Meinungsvielfalt bleibt eine richtungsweisende Grundlinie aus. Keine Partei hat einen Bauern, der in der Lage ist, Ruhe in den Stal zu bringen, was ein ewiges Gegackere mit sich bringt.

b) Kartographie der Parteienlandschaft
In Bonn gab es drei Parteien, die sich arrangieren mussten – ich lasse die Grünen einmal außen vor, da diese in der alten Republik einen rebellischen Sonderstatus hatten und zumindest rückblickend gewisserweise als Vorbote des Endes gewertet werden können, da sie nicht mehr die Gelegenheit bekamen, in der Bonner Republik wirklich anzukommen, auch wenn eine Kausalität hier nicht vorliegt. Heute jedoch haben wir ein Fünfparteiensystem, manch einer spekuliert sogar schon über eine etwaige sechste Partei. Somit ist eine gänzlich verschiedene Situation entstanden. Volksparteien im klassischen Sinne gibt es nicht mehr und die Zeit, in der ein Großteil der (noch nicht ganz demokratisierten) Bevölkerung meist tradierte Kreuze auf dem Wahlzettel macht, ist endgültig vorbei. Umfragewerte und Wechselwählertum dominieren das heutige Geschehen. Auch haben Stimmungen heute mehr Einfluss auf die politische Ausrichtung der Parteien als Stimmen.

c) Welt der Politik in der Weltpolitik
Die alten Blöcke sind weggebrochen, der große Weltkonflikt hat sich aufgelöst. Heute bedroht uns nicht mehr ein Gefüge mehrerer Nationalstaaten und wir selber finden uns zwar in einem internationalen Gefüge, allerdings sieht dies jetzt einem „Feind“ gegenüber, der nicht mehr in den Grenzen von Staaten auszumachen ist. Sieht man den internationalen Terrorismus als den neuen Feind an, so handelt es sich hierbei ebenfalls um ein internationales, weltuspannendes Gefüge, das allerdings, und dieses Faktum verlang ein ganz anderes Handeln als ehedem, jenseits der Oberfläche im Untergrund agiert. Die Bekämpfung der Bedrohung ist nicht mehr nur Teil der Außenpolitik und kann auch nicht mit Diplomatie gelöst werden, vielmehr hat sich die Weltpolitik in die Hinterzimmer der Innenpolitik geschlichen und fordert auch dort nun nach Beantwortung dringender Fragen.

d) Teile des Ganzen – der Föderalismus
Es war vergleichsweise einfach die Interessen von neun Bundesländern zu koordinieren und auch die Zusammensetzung des Bundesrates ging langsam vonstatten, so dass einer Blockadepolitik, die es zwar damals auch schon gab, Grenzen gesetzt waren. Heute besteht die Länderkammer jedoch aus 16 Mitglieder, was mit sich bringt, dass durchschnittlich pro Jahr vier Landtagswahlen anstehen. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass diese Situation auch dazu führen musste, dass eine Verwischung von Bundes- und Landespolitik stattfindet und der Bund immer wieder sein Handeln nach anstehenden Wahlen ausrichtet. Umso mehr, als nun ein Kippen des Bundesrates wesentlich schneller eintreten kann als noch in alten Tagen.

e) Europas Kinderschuhe
Das heutige Europa steckt, das wird man in ein oder zwei Jahrzehnten sicherlich so sehen, noch in den Kinderschuhen. Zumindest insofern, als es ein noch oftmals unkoordinierter Gesamtorganismus zu sein scheint. Ein sich für Deutschland ergebendes Problem daraus ist, dass wir zwar unseren Standpunkt innerhalb der europäischen Union gefunden haben, jedoch noch nicht zur Gänze verinnerlicht haben, was denn Europa ist. Der Kontinent entwickelt sich zunehmend zu einem gemeinschaftlich innenpolitischen Raum, der nur dann eine Chance auf dem Weltparkett haben kann, wenn er als Einheit agiert. Dies bedeutet jedoch, dass die einzelnen Nationalstaaten massiv Kompetenzen an die Gemeinschaft abtreten müssen. Im Falle Deutschlands, welches an sich ja schon bundesstaatlich organisiert ist (laut Verfassung liegt die Staatlichkeit bei den Ländern, nicht beim Bund), ist dies eine große Herausforderung, deren Ausmaß auch hier noch nicht ganz verstanden ist.

f) Verpasste Chance
Nicht nur hinsichtlich der Legitimation der Einheit, auch bezüglich eines geordneten Übergangs zwischen der Bonner und Berliner Republik, hätte man vor 20 Jahren die Chance gehabt, grundlegende Strukturen zu überarbeiten. Man hätte können in den Einheitsvertrag aufnehmen, dass die Einheit zwar Übergangsweise über den alten Artikel 23 geschieht, jedoch parallel dazu ein neuer parlamentarischer Rat gebildet wird, welcher eine endgültige Reorganisation im Sinne des Artikels 146 vorbereitet. Man hätte dies als ein langfrisiges Projekt anlegen können, bei dem man sich auch gerne mal zehn oder zwanzig Jahre Zeit lässt. Dieser Rat hätte dann natürlich nur von Personen besetzt sein dürfen, die nicht aktiv in der Tagespolitik tätig sind und sich daher ganz der Neuordnung Deutschlands hätten verschreiben können. Hier hätte man dann auch neu entstandenen Bedürfnissen gerecht werden können und aktuelle Tendenzen aufgreifen können. Man hätte beispielsweise plebiszitäre Elemente einführen, Bundesländer neu ordnen oder das Steuersystem reformieren können. Vieles wäre in einer neuen Verfassung denkbar gewesen. Da dies jedoch nicht geschehen ist und die Notwendigkeit dafür nach nunmehr 20 Jahren nicht mehr bestehst beziehungsweise auch nicht mehr vermittelbar wäre, bleibt uns nur, das Grundgesetz immer wieder in Einzelpunkten den faktischen Gegebenheiten anzupassen.

Auch wenn eine wie auch immer geartete Zusammenstellung solcher Aspekte nie eine ausreichende Beschreibung des Übergangs wird darstellen können – ich sagte ja, es bliebe bei einem unvollständigen Versuch –, so sollten wir uns doch bewusst sein, dass die Berliner Republik sich einfach aufgrund der Umstände der letzten beiden Jahrzehnte und der anhand der Einzelpunkte jeweils gravierenden Einschnitte noch gar nicht hat finden können. So verwundert es nicht, dass sowohl Politiker, Kommentatoren und Bürger noch in gewohnten Denkstrukturen verhaftet sind, die sie auf das neue System zu übertragen versuchen. Es wird noch einiges an Umdenken kosten, bis wir alle in dem status quo angekommen sind.

Montag, Oktober 18, 2010

Die Gretchenfrage

Integration ist keine Frage von Religion. Soviel einmal vorweg. Auch wenn es jetzt scheinen mag, dass ich mit diesem Beitrag, der auf die Aussage unseres Bundespräsidenten zurückgreifen wird, an einer inaktuellen Fragestellung ansetze, so sieht man doch im Diskurs der letzten Wochen, dass diese Problematik eine gewissermaßen stetige Aktualität aufweist. Dies erkennt man nicht zuletzt daran, dass die Argumente seit der Leitkultur-Debatte eines Friedrich Merz vor zehn Jahren nichts an Einsicht dazu gewonnen zu haben scheinen.

Seit der Rede Christian Wulffs, die unter anderem darauf hinwies, dass der Islam zu Deutschland gehöre, besteigen die Kronanwälte christlich-jüdischer Kultur die Kanzeln der Republik und predigen die Hegemonie der westlichen Werte. Die Interpretation der Worte unseres Staatsoberhauptest reichen von „Beschreibung einer faktischen Realität“ über „Verklärung der Geschichte“ bis hin zu „Sensibilisierung für die Herausforderungen der Zukunft“. Meines Erachtens jedoch, ist an der genannten Aussage nur insofern etwas falsch, als dass es nicht heißen sollte, der Islam gehöre zu Deutschland, sondern vielmehr der Wahrheit entspräche, dass der Islam ein integraler Bestandteil der europäischen Kultur sei.

Wer würde sich heute noch den großen Pionieren westlicher Demokratien – sprich den griechischen Philosophen – entsinnen, wenn nicht der Islam sie vor der Ausrottung durch die römisch-katholische Kirche bewahrt hätte? Mag heißen: Auch wenn uns – mir inklusive – der pöbelnde Türke auf der Straße zutiefst zuwider ist und diesem in welcher Form auch immer Einhalt geboten werden mus, so können wir doch nicht den logischen Kurzschluss zulassen, dass wir Religion mit der Vereinbarkeit mit westlichen Werten gleichsetzen.

Was überhaupt sind die vielbeschworenen westlichen Werte? Gründen diese nicht auf Denkleistungen, die ohne ein arabisches Zahlensystem nicht denkbar gewesen wären? Die Gauß’sche Glocke unter der sich heute viele unserer Berechnungen, Theorien, Statistiken und Erklärungsmodelle wiederfinden, wäre mit den klassisch europäischen, römischen Zahlen nicht erfindbar gewesen.

Es ist ja nicht so, als stünden die Türken abermals vor Wien. Zumal es nicht darum geht, dass wir bis auf’s Mark bewaffneten Islamisten gegenüberstünden – zumindest nicht in der Masse. Ich wäre der letzte der behaupten würde, dass es diese nicht auch gäbe. Daher stellt sich mir die Frage, was diese ganze Islam-Debatte überhaupt soll. Natürlich gibt es ein Problem mit Migranten – meist türkischen Mitbürgern, die sich unter dem Deckmantel des Glaubens der Integration verweigern. Aber ist dies wirklich eine Frage der Religion? Können wir wirklich den türkischen Hinterwäldler, der den Anreizen des deutschen Sozialsystems folgend hierher kommt, mit dem iranischen Immigranten, der eben wegen jener westlichen Werte, die er im Grunde seines Herzens verinnerlicht hat, hierherkommt, gleichstellen?

Ich denke, dass sich die Immigrationsfrage vor dem Hintergrund der sozialen Frage in zweierlei Hinsicht auflöst: Zum einen der pre-migrativen sozialen Frage, die anzeigt, aus welcher sozialen Schicht jemand kommt, zum anderen der post-migrativen Frage, in welcher Gesellschaftsschicht jemand nach dem Übersiedeln in unserer Gesellschaft ankommt.

Diese Frage harrt jedoch nicht der individuellen Lösung, sondern der systemischen. Auch deutschen Hartzdynastien fällt es schwer, ihren Nachkommen einen zukunftsweisenden Platz im Gefüge der krankenden sozialen Marktwirtschaft zu garantieren. Es ist keine Frage des Glaubens sondern des Blickes ins Portemonaie, auf welche Bahn ich in diesem Land gerate.

Auch wenn die nun gestellten Fragen um Kopftücher, Burkas, Imam-Ausbildung und Parallelgesellschaften durchaus ihre Berechtigung inmitten einer modernen Demokratie haben, so sollten sie doch nicht als die grundlegenden Fundamente verstanden werden, auf denen unsere westlichen Werte bergündet sind. Denn diese liegen ganz woanders. Jedem der sich solcher Polemik hingezogen fühlt, sei gesagt: Seit Leesing können wir nicht mehr wissen, wer den richtigen Ring trägt.

Montag, Oktober 11, 2010

David Fincher’s „The Shallows“

Wäre ich Lehrer, würde ich morgen meine Klasse eine dialektische Erörterung schreiben lassen zum Thema Facebook und könnte mir sicher sein, dass weit über die Hälfte mir Besseres liefern würden, als das, was ich soeben in „The Social Network“ zu sehen bekam. Was soll uns dieser Film sagen? Mehr Aussage, als dass Mark Zuckerberg irgendwie ein Arschloch ist, steckt in dem Film nicht drin – selbst diese Aussage wird dann wieder durch den Film selbst eingeschränkt, weil er ja dann doch nicht so schlimm rüber kommt. Aber alles in allem ist der Film recht seicht. Nett für zwei Stunden Kino, die ich mir viel zu selten gönne, aber nicht nett genug um ihn mir mehrfach anzuschauen.

Die einzige Szene, die mich zum Nachdenken angeregt hat, war, als Mark von einem Freund gefragt wird, ob eine entfernte Bekannte einen Freund habe und er daraufhin mit der soeben gewonnenen Erkenntnis, dass die Einstellung des Beziehungsstatus essentieller Bestandteil von Facebook zu sein habe, aufspringt, um diese in die Seite zu implementieren. Diese Einstellung geht wenigstens etwas über das sonst im Film anzutreffende Harvard-Geplänkel, das man in fast jedem zweiten amerikanischen Film zu sehen bekommt, hinaus. Hier kann man wenigstens noch intellektuell mit arbeiten, indem man sich das Phänomen vor Augen führt, wie aus einer sorglos gestellten, eigentlich nebensächlichen Frage, eine Idee entsteht, die dann fundamentale Konsequenzen für das Projekt hat.

Dabei wäre es so einfach gewesen, mit zwei, drei kleinen Szenen, dem Film ein Vielfaches an Tiefe zu verleihen. Beispielsweise wird auf die Frage, was Menschen dazu treibt, sich virtuell vor anderen zu offenbaren, nicht oder kaum eingegangen. Auch hätte man mit einer kleinen Nebenhandlung einiges an Fragen hinsichtlich des sozialen Drucks, der durch Facebook entstanden ist, aufwerfen können:

Eine Schülerin wird von ihren Freundinnen aufgefordert, sich doch auch endlich bei Facebook anzumelden, doch ihr ist dies suspekt und sie weigert sich. Als ein paar Tage später alle von der tollen Party am Vorabend erzählen, stellt sie fest, dass alle ihre Freundinnen dort waren. Als sie diese mit der Frage konfrontiert, warum ihr denn niemand bescheid gegeben habe, sie per SMS oder Anruf informiert hätte, bekommt sie zur antwort: „Wir haben es doch bei Facebook gepostet.“ Sie legt sich daraufhin ein Profil an.

Eine solche Szene und vielleicht ein paar weitere kritische Töne, hätten „The Social Network“ zu einem den-musst-du-gesehen-haben-Film werden lassen können. Auch wenn mir bewusst ist, dass ich diesen Film sowieso hätte keinem empfehlen müssen, da aller Vorraussicht nach eh jeder hineinstürmen wird, so hätte es mich doch gefreut, wenn ein sinnvoller Film entstanden wäre, der auch über die Person Mark Zuckerberg hinaus, kritisch Stellung bezieht.

Leider lässt der Film diesen Mut vermissen und gibt sich damit zufrieden, eine seichte Nacherzählung zu sein, von Fakten, die wir mittlerweile durch Berichte, Artikel und Bücher der letzten Monate alle kennen und die zudem wohl nicht so geschehen sind. Dennoch wird der Film“The Social Network“ Besucher anziehen – eben weil es um Facebook geht. Doch genau damit bestätigt David Fincher das, was Nicholas Carr in seinem Buch behauptet: Wer sich zuviel mit Facebook beschäftigt, verliert die Fähigkeit zum tieferen Nachdenken.

In Ermangelung eines Dislike-Buttons bleibe ich daher beim traditionellern Urteil: Thema verfehlt.

Samstag, Oktober 02, 2010

Einheitsbrei: Warum die Ost-West-Frage obsolet ist

Wift man dieser Tage einen Blick in die Medien, stößt man unweigerlich auf die Frage, ob die Ost-West-Spaltung Deutschlands nun nach zwanzig Jahren endlich überwunden sei oder nicht. Um das Kind beim Namen zu nennen: Diese Frage kotzt mich an! Dies ganz besonders aus dem Grund, weil sie einmal mehr den Sündenbock „Einheit“ an den Pranger stellt.

Warum, um alles inder Welt, wird diese Frage immer noch gestellt? Nur weil man in unsicheren Zeiten einen Grund braucht, warum es einem nicht gut geht oder man befürchtet, es könne einem nicht gut gehen? Aber genau an diesem Punkt, sind wir mitten im Kern der ganzen Sache: Die deutsche Einheit ist bewältigt – die gesellschaftlich, strukturellen Veränderungen der letzten zwanzig Jahre nicht.

Damit meine ich nicht die Reparationszahlungen des ersten Weltkrieges, von denen diese Woche die letzte Rate zurückgezahlt wurde und die nur deswegen 1990 wieder aufgenommen werden mussten, weil man dies nach dem zweiten Weltkrieg auf den fernen Punkt einer irgendwann kommenden Wiedervereinigung geschoben hatte. Ich meine auch nicht die ganzen Krisen, die uns in den letzten beiden – vor allem dem letzten – Jahrzehnten heimgesucht haben: Dotcom-Blase, Finanzkrise, Weltwirtschaftskrise und kleinere Debakel. Denn wie man sieht, hat Deutschland hier im Vergleich zu vielen anderen Staaten eine gute Figur gemacht und konnte zwar geschwächt, aber vergleichsweise nur mit ein paar Schürfwunden aus diesem Dilemma hervortreten.

Was also meine ich damit? Ich meine damit, dass Deutschland es in einer Weise geschafft hat, die Einheit zu vollziehen, die die Welt noch nicht gesehen hat. Über die Bedeutung dieser Errungenschaft, habe ich schon des Öfteren geschrieben. Doch was wir heute zunehmend verkennen, ist die Tatsache, dass fernab deutsch-deutscher Geschichte sich das Rad der Zeit weitergedreht hat. Man muss sich nur eine der ersten Folge der überaus beliebten „Lindenstraße“ anschauen, um zu dem Schluss zu kommen, dass wir heute in einer komplett anders gestalteten Welt leben.

Wenn man sich anschaut, welch extremem Fortschritt unsere Gesellschaft innerhalb der letzten zwei Dekaden ausgesetzt war, so verwundert es doch nicht, dass dadurch auch Probleme entstanden sind. War die Gesellschaft in den 80er Jahren noch weitestgehend auf die „Manu“faktur – also die Arbeit mit den Händen – konzentriert, so leben wir heute in einer digitalen Dienstleistungsgesellschaft. Natürlich will ich hier jetzt nicht behaupten, wir seien 1990 noch ein altertümlicher Agrarstaat gewesen und ich bin mir auch bewusst, dass schon in meinen Lehrbüchern der 90er Jahre gelehrt wurde, es fände eine Verschiebung hin zum dritten Sektor statt. Jedoch wenn man sich überlegt, wie der Computer und das Internet die Arbeitswelt revolutioniert haben, so muss man sich nicht wundern, dass dadurch auch ökonomische Schieflagen entstanden und viele Arbeitsplätze – trotz der Tatsache, dass auch andernorts viele neue entstanden – weggefallen sind. Um nur ein ganz triviales Beispiel zu nennen: Wo ehedem ein Korrektor den Rotstift zückte, wird er nun durch die automatische Rechtschreibprüfung ersetzt. Das ist nun einmal der Preis des technologischen Fortschritts.

Bitterfeld steht heute ob der Unternehmen, die sich dem Ausbau erneuerbarer Energien gewidmet haben, besser da als Gelsenkirchen, wo ebenso wie in ersterer Region massiv industrielle Arbeitsplätze weggefallen sind. Dies zeigt doch, dass es eben keine Frage von Ost-West ist, sondern vielmehr die Frage danach, wie wir mit diesem gesellschaftlichen Umsturz umzugehen haben. Es mag ja sein, dass gerade die ostdeutschen Gebiete auch diesbezüglich in den letzten Jahren zu kurz gekommen sind, was dann aber nicht an dem Phänomen der deutschen Einheit liegt.

Warum also dieses stetige „Einheits-Bashing“? Warum können wir nicht sagen, dass der seinerzeit von Adenauer eingeschlagene Weg, der in dem Höhepunkt deutscher Geschichte mit der Einheit unter Kohl sein Ziel fand, richtig war? Wir leben heute in einem vereinten und vor allem friedlichen Europa. Ein Zustand, den wir über Jahrhunderte missen mussten – ganz zu Schweigen vom Frieden auf deutschem Gebiet. Die deutsche Frage, die die Machthabenden seit Generationen beschäftigt hat, ist endgültig gelöst und wir leben Hand in Hand mit unseren Nachbarn. Sollte uns dies nicht Anlass genug sein, die „Ode an die Freude“ aus tiefster Kehle anzustimmen? Ich jedenfalls werde mich an diesem Wochenende freuen, dass ich in einem Europa lebe, dass sich Millionen Menschen vor mir so nicht hätten vorstellen können, obwohl sie es sich insgeheim immer gewünscht haben.

Auf de schwäbsche Eisebahne…

Hätte man mich gestern Nachmittag gefragt, wie meine Meinung zum Bauprojekt „Stuttgart 21“ ist, so hätte ich wohl gestehen müssen, dass ich dazu keine Meinung habe, hätte ides jedoch dadurch relativiert, dass ich mich, in Unkenntnis der Details vor Ort jedoch eher zu denen hingezogen fühle, die den Standpunkt vertreten, dass man in einem 15-jährigen demokratischen Prozess, früher hätte gegensteuern können. Doch seit den gestrigen Ereignissen, kann man nicht weiterhin „keine Meinung“ haben. Moralisch stehen die Befürworter nun im Aus – ganz gleich wie gut die Gründe für die Durchführung des Projekts auch sein mögen. Die Schattenseite staatlichen Gewaltmonopols hat ihre Fratze offenbart.

Fernab der Pros und Contras hat die Auseinandersetzung nun eine Metaebene erreicht, die die Frage aufwirft: Dürfen in einer an sich gut funktionierenden Demokratie, solche Mittel staatlicher Gewalt eingesetzt werden? Denn wir sprechen hier nicht von einem radikalen schwarzen Block oder links- oder rechtspolitischen Fundamentalisten, wir sprechen von Demonstranten aus dem Bürgertum: Kinder, Jugendliche, Businessmenschen, Rentner, eben vom Otto-Normal-Bürger. Es ist ein Schlag ins Gesicht der freiheitlich-westlichen Werteordnung, wenn ein Innenminister nach solchen Ereignissen, davon spricht, dass von Müttern mit Kindern eine Gefahr ausgehe: „Wenn Kinder in die vorderste Linie gebracht werden, von ihren Müttern, von ihren Vätern, wenn sie instrumentalisiert werden, wenn sich Mütter mit den Kindern der Polizei in den Weg stellen, dann müssen sie eben auch mit einfacher körperlicher Gewalt nämlich weggetragen werden.“ (Heribert Rech, Innenminister von Baden-Württemberg, heute-journal vom 01.10.2010)

Natürlich ist es erste Pflicht des Staates, einzugreifen, sobald eine Bedrohung entsteht, jedoch kann ich, bei den Informationen, die ich bisher habe dazu sammeln können, nicht feststellen, dass eine solche Bedrohung je bestand. Meldungen über Steinewerfer wurden erst verkündet, dann wieder zurückgezogen und im Verlauf des heutigen Tages war von Kastanien zu lesen, die die Schüler geworfen hätten. Natürlich steht es außer Frage, dass das einzige Mittel gegen Kastanien, Wasserwerfer und Pfefferspray ist. Durch den Einsatz dieser Mittel, ist es nun an der Zeit, dass Innenminister Rech mit sofortiger Wirkung zurücktritt, nicht weil er einen Befehl gegeben hat, sondern weil er die politische Verantwortung für die gestrige Eskalation trägt. Mit jeder Stunde, die er im Amt bleibt, schadet er dem Vertrauen in die Demokratie. Auch wenn dies dann nur ein symbolischer Akt wäre, der so gesehen keine wirklichen Konsequenzen hat, so wäre es doch ein gutes Zeichen und würde das Gefühl vermitteln, dass diese Ausschreitungen auch Konsequenzen haben.

Wenn man sich heute morgen die Reden der Parteien im Bundestag zum Antrag der Grünen, die Tagesordnung der Bundestagsdebatte zugunsten einer „aktuellen Stunde“ über „Stuttgart 21“ zu ändern, angeschaut hat, dann kann man sich nur an den Kopf fassen. Die Argumente gegen diese Tagesordnungsänderung waren bei den Haaren herbeigezogen. Hier eine kleine Übersicht: a) Der Antrag sei zu spät eingereicht worden: In solchen Ausnahmemomenten könnte man sich, durch Abstimmung und mit breiter perlamentarischer Mehrheit, auch über reine Formalien hinwegsetzen – schließlich würde dies binnen Stunden auch getan, wenn ein Flugzeug ins Kanzleramt flöge. b) Der Einsatz der Polizei sei Zuständigkeit der Länder: Das ist richtig, jedoch der Grund der Auseinandersetzung ist ein Bahnprojekt, an dem der Bund qua Zuständigkeit für die Bahn sehr wohl ein Mitspracherecht hat; zudem steht die Frage im Raum, ob die vorgefallenen Ereignisse das Gesamtgefüge des demokratischen Zusammenlebens im Lande nicht insoweit gefährden, als dass der Bundestag dazu Stellung zu nehmen verpflichtet wäre. c) Man solle, so die FDP, die Kritik auch nicht zu ernst nehmen, denn schließlich habe es vor 1835, dem Jahr, in dem die erste deutsche Eisenbahn über die Schienen ratterte, auch Proteste gegeben, darunter selbst wissenschaftliche Annahmen, dass man nach 20 km verrückt würde oder Frauen durch das neue Verkehrsmittel die Fruchtbarkeit verlören, und es sei gut gewesen, solcher Kritik nicht zu folgen: Also wenn dieses Argument in der Frage, inwieweit es gerechtfertigt ist, mit Wasserwerfern auf dem Anschein nach firdliche Bürger loszugehen, sein soll, dann kann man nur konstatieren, dass die FDP in einem rauschhaften Regierungsgeilheitswahn nun endgültig den Boden menschlicher Vernunft unter den Füßen verloren hat.

Man kann der schwarz-gelben Landesregierung sowie der ebenso gefärbten Bundesregierung nur wünschen, und Wünsche an Schwarz-Gelb sind in letzter Zeit recht selten geworden, dass es nicht zu Schlimmerem kommt: Ein zweiter Benno Ohnesorg würde die anstehenden Feierlichkeiten zum zwanzigjährigen Jahrestag der Einheit, einer Konsequenz der friedlichen [sic!] Revolution, vollends überschatten und vielleicht ganz andere Geister wieder auf den Plan rufen, die – Gott sei Dank – seit langem Schlafen, denn irgendwie hat es mich schon verwundert, dass heute nirgendwo ein Schreiben aufgetaucht ist, dass die Neugründung der RAF gezeichnet vom „Kommando Verena Becker“ ausruft.