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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Samstag, Oktober 02, 2010

Auf de schwäbsche Eisebahne…

Hätte man mich gestern Nachmittag gefragt, wie meine Meinung zum Bauprojekt „Stuttgart 21“ ist, so hätte ich wohl gestehen müssen, dass ich dazu keine Meinung habe, hätte ides jedoch dadurch relativiert, dass ich mich, in Unkenntnis der Details vor Ort jedoch eher zu denen hingezogen fühle, die den Standpunkt vertreten, dass man in einem 15-jährigen demokratischen Prozess, früher hätte gegensteuern können. Doch seit den gestrigen Ereignissen, kann man nicht weiterhin „keine Meinung“ haben. Moralisch stehen die Befürworter nun im Aus – ganz gleich wie gut die Gründe für die Durchführung des Projekts auch sein mögen. Die Schattenseite staatlichen Gewaltmonopols hat ihre Fratze offenbart.

Fernab der Pros und Contras hat die Auseinandersetzung nun eine Metaebene erreicht, die die Frage aufwirft: Dürfen in einer an sich gut funktionierenden Demokratie, solche Mittel staatlicher Gewalt eingesetzt werden? Denn wir sprechen hier nicht von einem radikalen schwarzen Block oder links- oder rechtspolitischen Fundamentalisten, wir sprechen von Demonstranten aus dem Bürgertum: Kinder, Jugendliche, Businessmenschen, Rentner, eben vom Otto-Normal-Bürger. Es ist ein Schlag ins Gesicht der freiheitlich-westlichen Werteordnung, wenn ein Innenminister nach solchen Ereignissen, davon spricht, dass von Müttern mit Kindern eine Gefahr ausgehe: „Wenn Kinder in die vorderste Linie gebracht werden, von ihren Müttern, von ihren Vätern, wenn sie instrumentalisiert werden, wenn sich Mütter mit den Kindern der Polizei in den Weg stellen, dann müssen sie eben auch mit einfacher körperlicher Gewalt nämlich weggetragen werden.“ (Heribert Rech, Innenminister von Baden-Württemberg, heute-journal vom 01.10.2010)

Natürlich ist es erste Pflicht des Staates, einzugreifen, sobald eine Bedrohung entsteht, jedoch kann ich, bei den Informationen, die ich bisher habe dazu sammeln können, nicht feststellen, dass eine solche Bedrohung je bestand. Meldungen über Steinewerfer wurden erst verkündet, dann wieder zurückgezogen und im Verlauf des heutigen Tages war von Kastanien zu lesen, die die Schüler geworfen hätten. Natürlich steht es außer Frage, dass das einzige Mittel gegen Kastanien, Wasserwerfer und Pfefferspray ist. Durch den Einsatz dieser Mittel, ist es nun an der Zeit, dass Innenminister Rech mit sofortiger Wirkung zurücktritt, nicht weil er einen Befehl gegeben hat, sondern weil er die politische Verantwortung für die gestrige Eskalation trägt. Mit jeder Stunde, die er im Amt bleibt, schadet er dem Vertrauen in die Demokratie. Auch wenn dies dann nur ein symbolischer Akt wäre, der so gesehen keine wirklichen Konsequenzen hat, so wäre es doch ein gutes Zeichen und würde das Gefühl vermitteln, dass diese Ausschreitungen auch Konsequenzen haben.

Wenn man sich heute morgen die Reden der Parteien im Bundestag zum Antrag der Grünen, die Tagesordnung der Bundestagsdebatte zugunsten einer „aktuellen Stunde“ über „Stuttgart 21“ zu ändern, angeschaut hat, dann kann man sich nur an den Kopf fassen. Die Argumente gegen diese Tagesordnungsänderung waren bei den Haaren herbeigezogen. Hier eine kleine Übersicht: a) Der Antrag sei zu spät eingereicht worden: In solchen Ausnahmemomenten könnte man sich, durch Abstimmung und mit breiter perlamentarischer Mehrheit, auch über reine Formalien hinwegsetzen – schließlich würde dies binnen Stunden auch getan, wenn ein Flugzeug ins Kanzleramt flöge. b) Der Einsatz der Polizei sei Zuständigkeit der Länder: Das ist richtig, jedoch der Grund der Auseinandersetzung ist ein Bahnprojekt, an dem der Bund qua Zuständigkeit für die Bahn sehr wohl ein Mitspracherecht hat; zudem steht die Frage im Raum, ob die vorgefallenen Ereignisse das Gesamtgefüge des demokratischen Zusammenlebens im Lande nicht insoweit gefährden, als dass der Bundestag dazu Stellung zu nehmen verpflichtet wäre. c) Man solle, so die FDP, die Kritik auch nicht zu ernst nehmen, denn schließlich habe es vor 1835, dem Jahr, in dem die erste deutsche Eisenbahn über die Schienen ratterte, auch Proteste gegeben, darunter selbst wissenschaftliche Annahmen, dass man nach 20 km verrückt würde oder Frauen durch das neue Verkehrsmittel die Fruchtbarkeit verlören, und es sei gut gewesen, solcher Kritik nicht zu folgen: Also wenn dieses Argument in der Frage, inwieweit es gerechtfertigt ist, mit Wasserwerfern auf dem Anschein nach firdliche Bürger loszugehen, sein soll, dann kann man nur konstatieren, dass die FDP in einem rauschhaften Regierungsgeilheitswahn nun endgültig den Boden menschlicher Vernunft unter den Füßen verloren hat.

Man kann der schwarz-gelben Landesregierung sowie der ebenso gefärbten Bundesregierung nur wünschen, und Wünsche an Schwarz-Gelb sind in letzter Zeit recht selten geworden, dass es nicht zu Schlimmerem kommt: Ein zweiter Benno Ohnesorg würde die anstehenden Feierlichkeiten zum zwanzigjährigen Jahrestag der Einheit, einer Konsequenz der friedlichen [sic!] Revolution, vollends überschatten und vielleicht ganz andere Geister wieder auf den Plan rufen, die – Gott sei Dank – seit langem Schlafen, denn irgendwie hat es mich schon verwundert, dass heute nirgendwo ein Schreiben aufgetaucht ist, dass die Neugründung der RAF gezeichnet vom „Kommando Verena Becker“ ausruft.