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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Mittwoch, April 27, 2011

Europa auf den Hörnern des Stieres

Die anti-europäischen Tendenzen in vielen Mitgliedstaaten der letzten Wochen und Monate sind erschreckend. Nicht zuletzt die verschiedenen Bestrebungen den Euro zu retten – oder vielmehr die Art und Weise, wie dies vonstatten geht – treiben den Europagegnern die Menschen in die Arme. „Euros nach Athen tragen“ müsste nicht zwangsläufig „Eulen nach Athen tragen“ bedeuten, was die Antihaltung der Europäer betrifft. Es scheint, als wäre im Zuge der letzten Jahre, die Idee eines geeinten Europas immer mehr verloren gegangen und als ginge es nur noch um die Stabilität des Wirtschaftssystems Europa: Die schöne Europa, aufgespießt auf den Hörnern des Bullen der Börse. Meines Erachtens sind die aktuellen nationalistischen Entwicklungen aber nicht nur eine Reaktion auf die Eurorettungspolitik, sondern Ausfluss eines viel tiefer liegenden Problems, das Europa hat. Hier zeigt sich, dass es dem europäischen Einigungsprozess an einem wichtigen Aspekt mangelt: der vielzitierten Glaubwürdigkeit.

Zum einen gibt es das Problem der Gewaltenteilung, dass dieses ganze Konstrukt den Bürgern zweifelhaft erscheinen lässt. Dadurch, dass viele Entscheidungen eben nicht das europäische Parlament durchlaufen, sondern im Rat gefällt werden und dann den nationalen Parlamenten als etwas Umzusetzendes vorgelegt werden, entsteht zu Recht der Eindruck, als wolle man als nationale Exekutivgewalt die Gewaltenteilung unterlaufen, indem man auf europäischer Ebene legislativ tätig wird. Somit werden die vom Volk gewählten Parlamente zu Abnickgremien der Ideen der Regierungen. Hier finden sich auch immer wieder Beispiele, in denen man unliebsame Entscheidungen, die einen im eigenen Land auf Kritik stoßen lassen und somit Wählerstimmen kosten würden, nicht angeht und erst mal abwartet bis sie auf europäischer Ebene angegangen werden. Danach erweckt man dann den Eindruck, als komme dies „aus Brüssel“ und habe nichts mit der eigenen Politik zu tun. Dies hat dann zur Folge, dass in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit die negativen Entscheidungen alle aus eben jenem „bösen Brüssel“ kommen und die positiven Weichenstellungen bei Weitem überwiegen.

Entweder kommen aus Brüssel unliebsame Vorgaben oder bürokratisch überladene Anweisungen wie die oft gescholtene Gurkenkrümmung. Dies trägt jedoch zu einer Entfremdung der Europäer mit Europa bei und schürt das Gefühl, dass dieser ganze Einigungsprozess in Wirklichkeit nur Spielerei sei. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass nationale Politiker sich immer wieder versuchen, auf der europäischen Ebene als solche zu profilieren und demonstrieren wollen, dass sie Europa ihren deutschen Stempel aufdrücken wollen. Doch ist Europa keine Open-Stage-Veranstaltung zur Profilierung nationaler Interessen. Wenn ich als Politiker in europäschen Kremien sitze, sollte mir zuallererst das Wohl Europas am Herzen liegen und nationale Interessen erst an die zweite Stelle meiner Argumentation treten. Ein weiteres Problem der personellen Überschneidungen zwischen diesen Ebenen.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass innerhalb der Abstimmungsprozesse jedes Mitglied dieser Gemeinschaft seinen Beitrag zu einem Kompromiss hinzusteuern kann und soll, jedoch sollte dies dann nicht, wie leider zu oft der Fall, instrumentalisiert werden. Gerade wir Deutschen wissen doch, dass eine solche Instrumentalisierung nicht immer förderlich ist und auch unser Bundesrat immer wieder zur politischen Selbstinszenierung genutzt wird. Wenn wir als Europäer auch zukünftig eine bedeutsame Rolle in der Welt spielen inmitten der existierenden der entstehenden Supermächte, die uns als Einzelnationen klar überlegen sein werden, dann müssen wir die Kakophonie der europäischen Stimmen mit gemeinsamer Anstrengung harmonisieren. Europa muss zum Chor werden, in dem jeder Sänger mit der eigenen Stimme dazu beiträgt, dass nach außen hin ein wohlklingendes Gemeinsames zu hören ist.

Dazu gehört es auch, dass wir nicht immer wieder diese Einheit gegen Einzelinteressen ausspielen. Man kann nicht gleichzeitig behaupten, man wolle ein einheitliches Europa mit Freizügigkeit und freien Grenzen, auf der anderen Seite aber sagen, die Flüchtlinge in Lampedusa seien ein explizit italienisches Problem oder sich für die Abschiebung von Roma stark machen. Entweder sind wir eine Einheit oder wir sind keine. Die Einheit immer wieder zum eigenen Nutzen zu propagieren, jedoch die nationale Souveränität zu stärken, sobald es einmal gegen die eigenen Interessen geht, wird langfristig Europa zerbersten lassen und dazu führen, dass von der einstmal guten Idee eines geeinten, friedlichen Kontinents nicht mehr übrig bleibt.

Auch kann es nicht sein, dass einzelne Akteure auf dem europäischen Parkett einen so großen Einfluss und so große Macht haben, wie es im Fall von Frankreich oder Deutschland ist. Es gibt kaum eine Entscheidung auf europäischer Ebene, die erfolgreich umgesetzt wird, wenn nicht mindestens einer der beiden Großen diese befürwortet. Doch muss es auch möglich sein, dass sich die kleinen Geschwister in dieser Familie einmal gegen die großen zusammenschließen und durchsetzen können. Denn wenn man Europa als ein franko-germanisches Hegemonialkonstrukt versteht, dann werden historische Wendepunkte wie der Wiener Kongress, der Friede von Versailles oder die Konferenz von Potsdam, die eben eine Vormachtstellung eines Einzelnen in Europa zu verhindern suchten, zur Makulatur der Geschichte. Nur wenn es gelingt, ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen, kann Europa als ganzes sich in der Welt behaupten. Es geht bei der europäischen Idee nämlich nicht darum nach eigenem Gutdünken zu handeln und dieser Einheit den eigenen nationalen Stempel aufzudrücken, sondern vielmehr darum, den eigenen Interessen in der Welt dadurch Gewicht zu verleihen, dass auf der globalen Bühne eine Gemeinschaft von Partnern sich so positioniert, dass man an ihr nicht mehr vorbeikommt.

Um noch einmal auf die eben schon angesprochene Stärkung des Europäischen Parlaments zurückzukommen, so bedeutet dies jedoch auch, dass man dorthin starke Persönlichkeiten entsendet. Leider hatte man in der Vergangenheit oft genug den Eindruck, als seien europäische Gremien Abstellgleise für Politiker, für die man im eigenen Land keinen Posten mehr hat oder haben will. Ebenso bedauerlich ist es, dass, sobald ein Politiker sich auf europäischer Ebene engagiert, er in der nationalen Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen wird, wenn er nicht gerade bei seiner Doktorarbeit plagiiert. Natürlich ist es aufgrund der Komplexität der Vorgänge oftmals eine Herausforderung für die Medien, die Abstimmungsprozesse auf europäischer Ebene allgemeinverständlich und begreifbar darzustellen, jedoch kann es nicht die Lösung sein, dass man sich dieser Aufgabe nur halbherzig stellt. Eine stärkere Einbeziehung der Europapolitiker in nationalen Diskursen würde vielleicht auch einiges an verlorenem Vertrauen in die europäischen Institutionen zurückgewinnen.

Ein letzter Aspekt, der leider immer wieder alle Diskussionen um Europa trübt, ist, dass innerhalb des Diskurses um die Zukunft dieser Einheit Europakritik mit Europagegnerschaft verwechselt wird. Es ist wohl wahr, dass die radikalen Gegenstimmen in letzter Zeit zunehmen, jedoch gibt es oftmals auch konstruktive Kritik in Detailfragen, die dann jedoch leider meist so dargestellt werden, als würden sie das große Ganze infrage stellen. Doch bedarf es hier einer vorsichtigen Differenzierung: Nicht jeder, der darauf hinweist, dass es in der Europapolitik Probleme gibt, ist ein Gegner der europäischen Idee. Wenn man jedoch in einem solchen Moment die Moralkeule Europa schwingt, dann prügelt man die Menschen hin zu den wirklichen Gegnern dieser gesamtkontinentalen Vision.

Es gibt also viele kleine Stellschrauben, an denen man ansetzen kann, damit die Maschine Europa leistungsstärker wird, jedoch verlangt dies, dass man auch die Bereitschaft zeigen muss, ergebnisoffen darüber zu diskutieren, wie eine Europäische Union gestaltet sein muss, selbst wenn dies das Abtreten eigener Machteinflüsse oder Kompetenzen verlangen würde, sowohl auf personellem als auch auf nationalem Level. Denn wenn man Europa weiterhin als einem halbwegs gewollten, halbwegs nötigem Konstrukt mit stiefmütterlicher Liebe entgegentritt, wird dies dazu führen, dass die antieuropäischen Kräfte in den nationalen Wahlen noch mehr an Zustrom gewinnen und über kurz oder lang werden wir feststellen müssen, dass wir aus den schrecklichen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts nichts gelernt haben und uns wieder in einem neuen Zeitalter der Nationalstaaten und somit in einem modernen neunzehnten Jahrhundert wiederfinden.

Möge Ludwig XIV recht behalten, der – wenn auch in einem anderen Kontext – schon damals konstatierte: „Es ist leichter, in Europa Frieden zu stiften als zwischen zwei Frauen.“