Ben's Kommentar

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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Freitag, September 30, 2005

Schöner wohnen mit Ben

Seit dem ausklingenden 20. Jahrhundert haben wir endlich Wissen über Dinge, die man woanders schon tausende Jahre vorher wusste: Wie richte ich mir meine Wohnung ein, so dass mein Yin und Yang in Einklang kommen, das Chi fließt und ich rundum glücklich durch’s Leben streifen kann? – Richtig Feng Shui!

Aber wie setzt man dies nun richtig um. Nagut, man beginnt erst einmal mit dem obligatorischen roten Gegenstand in der Reichtumsecke, in die man zuvor schon ein paar Edelsteine und einen Salzkristall gelegt hat, die sich direkt neben dem Geldbaum befinden. Doch da fängt das Problem schon an. Diesen habe ich nämlich gehegt und gepflegt, was mir auch – trotz fehlendem grünen Daumen – recht gut gelang, bis ich eines Tages den Eindruck hatte, dass mein Bäumchen nun doch etwas zu groß geworden sei und ich mir als Pseudo-Gärtner ins Gedächtnis rief, dass man ja Rosen immer wieder zurückschneiden muss. Warum also auch nicht einen Geldbaum? Also Schere raus und ab in die Dauerpleite... Mist, scheint ja doch was dran zu sein. Naja, er wird sich schon wieder erholen, oder besser gesagt das von ihm, was noch übrig geblieben ist.

Aber Gott sei Dank gibt es ja noch mehr Ecken, um die man sich kümmern muss. So wie die Reiseecke, die Gesundheitsecke, Freundesecke und natürlich die Partnerschaftsecke, in der man etwas in doppelter Ausführung platzieren soll. Leider ist es in meiner Wohnung jedoch so, dass sich eben jene Ecke in der Dusche befindet. Also: Zweites Duschgel und zweites Shampoo kaufen und dort platzieren und eine Woche später war es dann soweit und ich war in festen Händen. Man kann mir das jetzt glauben, muss es aber nicht. Allerdings habe ich dann einige Zeit später herausbekommen und ich glaube damit bin ich auf weiter Flur der erste: Feng Shui funktioniert auch rückwärts! Wenn man Stress in der Beziehung hat, einfach das zweite Duschgel und das zweite Shampoo wieder entnehmen und die Lage spitzt sich so zu, dass man den Partner wieder los wird und dies dann nicht nur, weil er sein Shampoo nicht mehr finden kann.

Man muss halt manchmal etwas experimentieren. So auch mit meinem Zimmerbrunnen und Insider wissen jetzt schon was kommt und kämpfen nun schon mit ihren Tränen. Ok, es war auch nicht alles richtig und sinnvoll, was ich da ausprobiert habe, jedoch wollte ich es doch nur schön haben in meiner kleinen 32qm – Wohnung. Man möge mir dies also verzeihen, denn ich habe es mit einem ästhetisch reinen Gewissen getan.

Ich habe mir also in einem Versandkatalog einen solchen Brunnen bestellt und diesen dann in meinem Zimmer aufgestellt. Allerdings war ich etwas enttäuscht, dass es so farbenunfroh aussah und da dachte ich mir, bring doch etwas Schwung in die Sache. Jeder normale Mensch hätte sich nun irgendein Wasserfärbemittelchen besorgt, nicht jedoch ich. Denn warum soll ich in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Und es sah ja auch wunderschön aus, diese weiße Flüssigkeit mit den leichten blauen Adern, die der ganzen Sache erst den richtigen Schliff gaben, jedoch gerann das Wasser-Milch-Gemisch nach drei Tagen und die Tinte dürfte wohl ihren Teil zu dem Geruch beigetragen haben.

Somit musste der Brunnen zum ersten Mal gespült und desinfiziert werden und eben bei der Reinigung fiel mir dann auf, dass Schaum ja auch einen schönen Effekt erzeugen könnte. Also Wasser in den Brunnen und ein paar Tropfen Spülmittel beigemischt. Durch die Zirkulation war der Schäumprozess im Gange und es bot sich mir ein herrliches Bild. Jedoch kam ich nach etwa einer halben Stunde in ein Zimmer wie man es momentan nur im südlichen Teil der USA findet, da mittlerweile so viel Schaum entstanden war, dass dieser das Becken des Brunnens überflutet und mein Zimmer unter Wasser gestellt hatte, denn Schaum am Boden wird wieder zu Wasser – eine physikalische Neuentdeckung, die ich nebenbei machte und über die ich gerade eine nobelpreiverdächtige Studie schreibe.

Wenn man Ärger mit der Physik bekommt, dann hilft man sich halt mit der Chemie weiter, so oder ähnlich wird es wohl eine Bauernregel geben. Deshalb machte ich ein kurzes Brainstorming: Seifenlösung ist eine Lauge und somit basisch, wenn sie also jetzt etwas zu heftig reagiert, muss man sie neutralisieren, indem man Säure dazu gibt. Ergo ging ich zum Kühlschrank und entnahm ihm Zitronensaft, der direkt neben dem Balsamico-Essig zum Entkalken steht. Nach Zugabe von einigen Tropfen in den schäumenden Brunnen tat sich nichts und er schäumte lustig weiter.

Also hieß es dann ein zweites Mal, Brunnen putzen und nach mehreren Durchgängen war dann auch ein schaumfreier Brunnen entstanden. Man mag es nicht glauben, aber der Brunnen wurde nun mit ganz normalem Wasser betrieben. Keine Effekte, keine Farbe, kein Schaum, kein Chaos.

Leider stellte sich nach einem längeren Zeitabschnitt ein neues Problem ein, denn nach mehreren Wochen wurde zunehmend klarer, dass er wirklich die Lebensenergien anregte. Allerdings auch die der Algen auf seiner selbst. Das brachte mich dann auf die fast schon geniale Idee – ja, andere haben diese sofort – es einmal mit destilliertem Wasser zu versuchen. Deshalb nimmt man dann die Zahnbürste des Ex, die ja seit der rückwertsgerichteten Duschenergieräumaktion verlassen im Bad steht und schrubbt erst einmal die Algen runter um dann in den nun sauberen Brunnen das keimfreie Wasser einlaufen zu lassen.

Jetzt war es ruhig um den Brunnen und ich musste ihn nur alle paar Tage nachfüllen, da ja immer mal wieder etwas Wasser durch die Wärme verdampft. Jedoch ist ein 5-Liter Kanister destilierten Wassers auch einmal leer und man müsste sich dann einen neuen kaufen und wie das nun einmal so ist, hat man just an dem Tag, an dem man es braucht keine Zeit, Lust oder eben kein Geld aufgrund des eingegangenen Geldbaumes, um sich neues zu kaufen und somit steht mein Zierbrunnen nun auf meiner Fensterbank, der die Wohnung zwar ziert, allerdings nicht mehr brunnt.

Heute fühle ich mich rundum wohl und der von Feng Shui versprochene Effekt, dass man endlich keinen Stress mehr hat, hat sich eingestellt. Denn seitdem ich aufgehört habe, die Wohnung zu verändern, liegen auch die Nerven nicht mehr blank, was aber auch an der Tatsache liegen kann, dass ich immer brav den Toilettendeckel schließe, damit das Chi nicht flöten geht.



P.S.: Ein anderes Mal erkläre ich dann, wie sich ein Spülberg positiv auf die Gesundheit auswirkt, was allerdings wenigere mit chinesischer Einrichtungskunst zu tun hat als mit der Tatsache, dass sich keine Bakterien mehr ins Schlafzimmer verirren, wenn in der Küche das wahre Paradies auf sie wartet.

Dienstag, September 27, 2005

Das Schweigen – Dillema

Oh Gott, jetzt ist eine ganze Woche vergangen und mir ist NICHTS eingefallen, was ich als interessant genug gefunden hätte, darüber zu schreiben. Denn vor lauter Sondierungen bekommt man ja fast nichts anderes mehr mit und über Rita zu schreiben, hatte ich auch keine Lust.

Heute habe ich mir dann fest vorgenommen noch einmal etwas zu formulieren und erzählte dies auch meiner besten Freundin, die daraufhin meinte: “Na endlich!”
Ups, dachte ich... da haste jetzt was angefangen. Was anfangs ein einfacher Spaß war, scheint mittlerweile einen eignen Erwartungshorizont entwickelt zu haben und ich stehe unter einem gewissen “Druck”, der jedoch auch weitestgehend von mir selbst fabriziert wird, da ich schon nach wenigen Tagen denke, dass ich mich doch mal wieder geistig ergießen sollte und normalerweise habe ich ja dann auch meist irgendetwas über das ich schreiben will oder sogar muss, da es mich meist bewegt. Jedoch hatte ich mich in der letzten Woche den Luxus gegönnt, oft Besuch zu haben und mal wieder einen tollen Roman zu lesen, der mich gedanklich total gefangen nahm und da ich hier nicht über ein schottisches Mönchskloster schreiben wollte, habe ich halt hier etwas geschlampt.
Aber was will man machen? Man muss sich halt dann selbst damit abfinden, dass auch das kreative im Menschen ab und an einmal ruhen muss.

Es war ja jetzt auch nicht so, dass mir gar nichts eingefallen wäre, jedoch es hatte nichts gepasst und ich hatte immer nach zwei oder drei Überlegungen schon das Gefühl, dass es nichts werden würde.
Wie heißt es immer so schön: “Wenn man mal wieder keine Ahnung hat – einfach Fresse halten!”. Und das habe ich ja nun auch getan und würde es ja auch jetzt noch tun, wenn ich nicht den rettenden Gedanken gehabt hätte, dass ich eben über meine Schreibunlust etwas verfasse, so dass meine Stammleser befriedigt sind und ich noch ein paar Tage Aufschub bekomme, in denen ich mir etwas spannendes überlegen kann.

Somit sitze ich jetzt hier, tippe sinnlos diesen Beitrag vor mich hin und warte auf irgendeinen Geistesblitz, eine geniale Idee, ein Wunder... naja, wenn wenigstens eine Muse in Form eines schönen Mannes klingeln würde, mich küsste und mir eine tolle Nacht bescherte, dann wäre das ja auch schon was. Allerdings scheitert diese Lösung schon im Ansatz, da Musen ja bekanntlich weiblicher Natur sind... zumindest die klassischen.
Also keine Muse sondern wieder mal selber machen: Do it yourself!

Das bringt mich jetzt ad hoc zur Frage, warum Tine Wittler nicht schon lange eine Sendung hat, bei der sie nicht den Heimwerker mit günstigen Ideen und einem Handwerkerteam unterstützt, sondern einfach mal mit ein paar Intellektuellen einen kleinen Heimschreiberling besucht und ihm zumindest einen Lückentext vorbastelt, in den man dann nur noch individuelle Formulierungen einfügen muss.

So habe gerade einen weiteren Trick benutzt: Sinnloses Absatz setzen – das vermittelt zumindest dem Auge den Eindruck, dass es viel sei. Und vielleicht habe ich ja Glück und es bemerkt keiner, dass mir momentan nix einfällt. Jedenfalls gelobe ich Besserung und werde mir wieder was einfallen lassen. Und wenn ich zu solch abstrusen Mitteln greifen muss wie der Idee, dass ich mehrere Male gegen die Wand laufe, um dann über diesen Selbstversuch einen Erfahrungsbericht schreiben zu können. Wobei mir eine nächtliche Marienerscheinung dann doch angenehmer wäre – zumal ich dann in meiner Wohnung einen kleinen Altar einrichten könnte und den Pilgern sinnlose Souveniers verkaufen könnte und somit noch einen finanziellen Zugewinn hätte.....

Ach, denke, das war genug Schwachsinn für heute: The rest is silence!

Montag, September 19, 2005

Nichts ist unmöglich....

Das Ergebnis der Bundestagswahl hat wohl die meisten Menschen dieses Landes verblüfft und meine Freunde wollten es mir ja im Vorfeld nicht glauben (hatte eine ähnliche Situation erwartet/erhofft: CDU/CSU +/- 30, SPD +/- 30, FDP +/- 15, Grüne +/- 15, Links +/- 10) und man ist sich ja mittlerweile in den Medien weitestgehend einig, dass auch der noch ausstehende Wahlbezirk in Dresden keine große Veränderungen mehr bringen wird. Also haben wir eine klassische Pattsituation.

Doch ist Deutschland deswegen in der Zwickmühle? Ich denke nicht, dass dem so ist, denn meines Erachtens hat das deutsche Volk mit diesem Wahlergebnis eine ganz klare Aussage getroffen: Man hat keinen Regierungsauftrag an Schröder oder Merkel gestellt, sondern vielmehr einen Regierungsauftrag an das Parlament in seiner Gesamtheit erteilt und damit zum Ausdruck gebracht, dass man mit der bisherigen Politik nicht einverstanden ist.

Uns wird jetzt endlich klar, dass es mehr gibt als nur zwei Optionen und darin liegt jetzt Deutschlands Chance. Es geht hier nicht um “Ampeleien” sondern darum, dass jetzt jeder Einzelne Politiker im Parlament Sorge zu tragen hat, dass es mit Deutschland bergauf geht. Man muss jetzt über Parteigrenzen hinaus Lösungen gemeinsam finden und das parteipolitische Element muss einen Schritt zurücktreten zugunsten der inhaltlich guten Argumente.

Egal welche Koalition sich nun finden würde, ich denke nicht, dass sie innerhalb der nächsten 4 Jahre stabil wäre, da egal, wer nun die Macht erteilt bekommt, auf einem angesägten Stuhl sitzt und somit einer Art Qualitätskontrolle unterliegt. Ich denke mal, dass ein paar spannende Jahre vor uns liegen, wo Politik wieder mehr sein wird als nur “Ich mache mal, was ich will, denn bis zur nächsten Wahl kann ja nix passieren” und man sich wieder den inhaltlichen Debatten zuwendet, in denen man schlussendlich jeden Einzelnen Abgeordneten auf seine Seite ziehen muss. Auch hat die künftige Opposition nun einen sehr großen Einfluss auf das politische Geschehen, da es eben nicht möglich sein wird, Gesetzte nach Schema S/W oder Schema R/G durchzubringen.

Somit wurde unser Parlament in gewisser Weise “demokratisiert” und die auf jeweils 4 Jahre beschränkten Legislaturperiodendiktatur ist abgeschafft. Wer immer nun Macht ausübt, muss sich einer ständigen Prüfung unterziehen und kann sich keinen Fehltritt leisten, da dies dann zu Koalitionsauflösungen oder anderen Situationen führen könnte. Regieren ist jetzt nicht einfach und das sollte es auch nicht sein, auch wenn sich dieser Irrglaube in den letzten 2 Jahrzehnten in die Köpfe der Politiker eingeschlichen hat.

Aber das Schönste an der ganzen Sache ist, dass nicht nur unsere Abgeordneten gezeigt bekommen habwen, wie raffiniert doch unsere Verfassung ist, sondern die ganze Wahl mit allem Drumherum auch eine demokratische Nachhilfestunde für Deutschland war. Denn bei der bis vor Kurzem noch vorherrschenden Politikverdrossenheit der Deutschen, wußten doch die wenigsten, was eine Vertrauensfrage ist, wie eine Kanzlerwahl abläuft, welche Befugnisse der Bundespräsident hat, etc.

Man interessiert sich wieder für Politik und diskutiert wieder allerorts darüber. Zudem kommen wir an die Grenzen der Verfassung und können einmal live miterleben, was eigentlich in solchen “Krisensituationen” passiert und wer dann was bestimmt. Somit würde es mich auch nicht verwundern, wenn wir auch in den nächsten Wochen auch erstmals in der Deutschen Geschichte die zweite oder sogar dritte Phase der Kanzlerwahl miterleben dürften oder sogar eine Minderheitenregierung entstehen würde.

Die Frage ist dann nämlich, ob unsere aktuellen Poltiker mit der ihnen aufgetragenen Verantwortung wirklich umgehen können und es auch mal schaffen von den hohen Machtrossen herunter zu kommen und die parteipolitischen Scheuklappen abzunehmen und mit vereinten Kräften den Karren aus dem Dreck ziehen können.

Momentan herrscht noch der reinste Kindergarten in Berlin: alle Kinder haben Spaß daran, dem Gegenüber das Spielzeug streitig zu machen und rangeln darum, wobei sie langsam nicht mehr durchblicken, wer mit wem rangelt und wer Anspruch auf welches Spielzeug hat. Aber eines ist klar: Nach dem Spielen wird aufgeräumt... und zwar gemeinsam!

Und somit kann ich jedem Politiker (auch wenn wahrscheinlich keiner diesen Beitrag lesen wird) zwei Sätze ans Herz legen, um zu zeigen, dass sie jetzt mehr denn je aufgefordert sind, sorgsam zu handeln und zu entscheiden:

Politiker sollten auch einmal Betroffenheit zeigen und nicht immer so verdammt siegessicher sein. – Günter Grass

Marionetten lassen sich sehr leicht in Gehängte verwandeln. Die Stricke sind schon da. – Stanislaw Jerzy Lec

P.S.: Dieser Beitrag ist mit Absicht so gehalten, dass er sich auf den gesamtpolitischen Zusammenhang bezieht und nicht auf die von den verschiedenen Parteien vertretenen Programme. Dies hat den einfachen Grund, dass ich keine Lust habe, dass er endlos Politdiskussionen nach sich zieht wie mein Beitrag zum WJT. Ergo habe ich keine Lust mich um Einzelaspekte der verschiedenen Parteien zu streiten, denn dies wäre auch der momentanen Situation nicht angemessen, da ich denke, dass bei dem jetztigen Ergebnis man die Parteipolitik per se noch einmal überdenken sollte.

Dienstag, September 13, 2005

Schöne Aussicht

Nach fast 10 Jahren habe ich mich nun endlich von ihr getrennt. Sie hat diese Zeit mit mir geteilt und sehr viel mit mir zusammen erlebt. Sie hat mein Coming-Out mitbekommen und mir im Abitur hilfreich zur Seite gestanden, war dabei als ich mein Studium begonnen habe und hat selbst in den schwersten Zeiten zu mir gehalten und mich nie im Stich gelassen. Sie war mir eine sehr treue Begleiterin und ist auch dann nicht von meiner Seite gewichen, wenn es brenzlig wurde und selbst als ich ihr fremdging und mich mit ihren Konkurentinnen auf der Bühne und in Freizeitparks und zu offiziellen Anlässen vergnügte, so hat sie nie auf diese Kontakte gelinst. Und dennoch: Ich habe jetzt eine neue – eine neue Brille.

Die erste Reaktion eines Freundes hätte können nicht klischéehafter sein. Er sah mich und fragte, warum ich mich denn so schick gemacht habe. “Ich schick? Bin doch ganz normal.” “Nee, aber du siehst anders aus, die Frisur und so.” Jaja, die gute alte Frisur. Aber man kennt das ja...

Dabei laufe ich heute schon den ganzen Tag wie auf Wolken durch die Stadt. Oder sollte ich doch sagen wie in einem heftigen Rausch? Jedenfalls ist es eine komplett neue Wahrnehmung, da die Welt so klein wirkt, weil man alles so scharf sieht, sie jedopch gleichzeitig groß wirkt, da man ja die Dinge in der Ferne noch sieht. Das Weite rückt näher und man wundert sich, wieviel man doch bisher verpasst hat. Auch die Menschen werden schöner, dadurch, dass man nun endlich mal sieht wie häßlich sie doch sind. Denn jetzt ist wirklich jede Falte selbst im Verbeigehen sichtbar, jedoch haben die Gegenüber nun auch wieder Kontraste und klare Linien und sehen nicht mehr so 2-dimensional aus wie schlecht Kopien eines Kommander Data.

Doch das Hauptproblem des heutigen Tages neben diesem Schwebegefühl waren Glastüren – die Feinde eines Neubebrillten. Also eigentlich ist es ja gar nicht die Schuld der Türe, dass ich gegen sie gelaufen bin, sondern eher die Tatsache, dass ich das Schild “ziehen” übersehen habe und versuchte mir mit Drücken Durchgang zu verschaffen. Jetzt mag man sich fragen, wie mir denn das passieren kann, dass ich trotz meiner neuen Brille etwas übersehe, was doch eigentlich wesentlich besser zu sehen sein müsste als in der Vergangenheit. Wer sich jetzt schon eine Erklärung darin sucht, dass ich ja kurzsichtig bin und die Brille ja nur die Weitsicht nicht aber die Wahrnehmung der Nähe verbessert hat, der liegt leider auf der falschen Spur. Im Grunde genommen ist die Brille eben an diesem Debakel schuld, oder besser gesagt die verbesserte Sicht, die es mir nun ermöglicht durch die Glastüre hindurch den netten, jungen Mann am Ende des Ganges klar zu erkennen und mich auf ihn starren zu lassen, so dass ich gar nicht mehr darauf achte, ob auf der Türe nun “drücken” oder “ziehen” steht.

Wie dem auch sei, so freue ich mich jedoch sehr über mein neues Nasenfahrrad und werde jetzt nicht nur im eigentlichen Sinne in die Weite schauen, denn auf der metaphorischen Ebene wird auch einiges momentan klarer, was sich bisher nur der dunst des Schimmers eines Anscheins war.

Und somit schließe ich mit den Worten eines ehemaligen Lehrers, der immer, wenn man ratlos vor der Tafel stand, zu sagen pflegte:

Geh ma a Schritt z’rück, da kannscht’ des aus der Ferne näher betrachte.

Donnerstag, September 08, 2005

1984 – eine Korrektur

Ausgelöst durch einige Vorkommnisse unterschiedlichster Art in den letzten Tagen, beschäftige ich mich gerade ziemlich intensiv mit dem Gedanken einer vernetzten Welt, in der man die Möglichkeit besitzt auf jedewede Art von Information zurückzugreifen.

Aber fangen wir vorne an: Im Jahre 1949 veröffentlichte George Orwell seinen utopischen Roman 1984, in dem er ein Szenario des totalen Überwachungsstaates abbildete. In seiner Fiktion war eben das Titeljahr der Zeitpunkt in der geschichte der Menschheit, an dem ein solches System in seiner Gänze entfaltet sei. Jedoch durften wir Gott sei Dank feststellen, dass er Unrecht hatte. Aber dürfen wir das wirklich? Werden wir nicht jeden Tag überwacht? Hinterlassen wir nicht überall unsere Spuren? Sind wir nicht überwacht auf Schritt und Tritt?

Ich denke Orwell hatte beides: Recht und Unrecht. Die von ihm beschriebene Zentralüberwachung existiert nicht, was jedoch existiert ist der gläserne Mensch, wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang.

Es gibt eine Theorie nach der man zwei beliebige Menschen auf der welt durch nur 6 Bekannte miteinander verbinden kann und diese konnte bisher noch nicht widerlegt werden. Und selbst, wenn ich mich hier bei Gayromeo umschaue, so stelle ich fest, dass es sehr leicht möglich ist zu einer x-beliebigen Person innerhalb weniger Verlinkungen zu gelangen, wenn auch die Wege manchmal irrational verlaufen und man zuerst in die scheinbar falsche Richtung gehen muss um den kürzesten Weg zu finden.

Wenn ich in mein Profil schaue (und ich tue dies jetzt nicht aus einer egozentrischen Idee heraus, sondern weil ich als mein eigenes Beispiel nicht Gefahr laufe, dass Ärger entsteht), so sind dort aktuell 134 Personen verlinkt, die ich alle im realen Leben kenne (denn das ist eine der Vorraussetzungen, die ich an eine Verlinkung stelle). Weiterhin steht dort die Information: “Insgesamt haben ihn 115 User gespeichert und als persönlich bekannt markiert. Diese sind wiederum bei 2671 weiteren Usern als perönlich bekannt gespeichert.” Eigentlich ein erschreckender Gedanke, da ich der Tatsache ins Auge schauen muss, dass knapp 3000 User sehr schnell und einfach an Informationen über meine Person herankommen. Wenn ich nun eine Stufe weitergehen würde und zudem bedenke, dass sich diese Zahlen ja auch nur auf einen kleinen Ausschnitt der Welt beziehen und es ja noch wesentlich mehr Menschen außerhalb von Gayromeo gibt, die mich direkt oder indirekt kennen, so kommen leichte Schwindelgefühle in mir auf angesichts der Tatsache, dass jeder dieser Menschen ein kleines Puzzleteil meiner Persönlichkeit kennt, manche größere und wichtigere, manche eher nur Teile die die Periphärie betreffen.

Wenn man nun ein Buch rundgehen lassen würde, in das jede dieser Personen die Informationen über mich schreiben würde, so denke ich würde darin so viel stehen, dass ich selbst beim Lesen zum einen das Gefühl hätte, dass ich total Gläsern und durchschaubar bin, zum anderen würde ich vielleicht feststellen müssen, dass ich mich selber überhaupt nicht kenne, denn oftmals sind ja Einschätzungen anderer treffender als einem lieb ist.

Andererseits ist es ja auch so, dass es nicht nur diesen inoffiziellen Informationsfluss gibt, sondern auch Institutionen Informationen über mich haben, wie beispielsweise wo und was ich wann mit meiner Karte bezahlt habe, was ich wann verdiente, selbst Krankheitsbilder, Reiseziele, Bestellinformationen, aufgerufene Websites und vieles anderes mehr sind dank moderner Technologie und Archivierung zurückverfolgbar. Und damit sind wir genau an dem orwellschen Punkt angelangt: Ich bin gläsern! Jedoch mit der Einschränkung, dass diese Informationen nicht zentral verfügbar sind sondern getrennt in viele Richtungen verstreut liegen.

Ich wäre jedoch nicht ich, wenn ich nicht - und dahingehend kenne ich mich sehr gut – wieder etwas Positives in der ganzen Sache sehen würde. Ich musste auch nicht lange suchen, um zwei Aspekte zu finden. Denn einerseits kann es mir nur recht sein, dass man viel über mich weiß, damit ich dann vielleicht eines Tages nicht mehr sinnlos mit Informationen und Angeboten konfrontiert werde, die mich nicht interessieren. Denn wenn man mein Kaufverhalten überall einsehen könnte, würden vielleicht lästige Windelwerbungen nicht mehr in meinem Briefkasten landen und auch das Papier für den Pfarrbrief könnte gespart werden. Es ist mir immer eine große Freude, wenn ich mich zum Beispiel bei amazon einlogge und dort meine persönlichen Empfehlungen abrufe, wie gut ich doch dort beraten werde alleine durch die Tatsache, dass dort bestellte Bücher gespeichert werden und unter Einbeziehung der Bestellungen anderer eine Palette generiert wird von Artikeln die mich eventuell interessieren könnten. So dass ein buntes Konglomerat entsteht aus wissenschaftlicher Studienlektüre, schwuler Trivialliteratur, Büchern über Sprache, Weltliterarischen Werken und vielem mehr. Immer nach dem Prinzip: Kunden, die dieses Buch bestellten, bestellten auch..... Perfekt auf mich abgestimmt und mit einem Kollektivbewußtsein untermauert.

Andererseits gibt mir diese Vernetzung natürlich auch die Möglichkeit, da Informationsfluss ja immer auch vice versa funktioniert, dass ich auf jedwede Information zurückgreifen kann. Denn diese zigtausend Menschen können ja nicht nur auf mein Wissen zurückgreifen, sondern ich kann ebensogut auf das Wissen von mehreren tausend Menschen zugreifen und leicht Dinge in Erfahrung bringen, die mir sonst, wäre ich auf mich alleine gestellt, verschlossen blieben. So ist es gerade in meinem aktuellen Job als wissenschaftliche Assistenz sehr hilfreich, wenn man nicht alle Texte zu dem betreffenden Thema lesen muss alleine aus der gewissheit heraus, dass andere diese schon gelesen haben und mir in ihren Texten Auskunft über die Wichtigkeit und Argumentation der Ursprungstexte geben können.

Somit kann ich eine solche Vernetzung nur willkommen heißen und gehe diesen “Kuhhandelo” gerne ein, wissend, dass je mehr Menschen etwas über mich wissen und je mehr Menschen mich kennen (oder zu kennen scheinen) sich meine Möglichkeiten dann auch potenzieren und ich in gewisser Weise nach und nach auf alles Wissen der Welt leichten Zugriff bekomme und viele für mich uninteressante Dinge dadurch von mir fernhalten kann, eben weil man über mich weiß, dass es nicht von Belang ist und ich durch Zielgruppenprofile falle oder ähnliches.

Dieser Gedanke steht im Grunde ja auch hinter jeder Vernetzung: Das Prinzip, dass man gezielt Informationen austauschen kann und Wissen akkumuliert ohne, dass der Einzelne alles wissen muss. Das zeichnet sich immer wieder in Informationsbeschaffungsunternehmen, Interessenverbänden, Geheimbünden, staatlichen Institutionen, Wissenschaftsarchiven und vielen anderen Vernetzungsmedien ab.

Somit muss ich nicht nur Orwell korrigieren, sondern auch die sokratische Aussage “Ich weiß, dass ich nichts weiß” modifizieren und kann sagen:
“Ich weiß, dass ich alles weiß, wenn ich nur weiß wie ich an dieses Wissen herankomme.”

Und dies zeigt uns einmal mehr, dass wir von unserem hohen Ross der Individualität heruntersteigen sollten und endlich akzeptieren müssen, dass wir Teil eines großen Ganzen sind und jede Veränderung die wir herbeiführen Auswirkungen nach außen hat und dies auch umgekehrt der Fall ist.

Samstag, September 03, 2005

Sehnsucht nach der Verkleidung

“Wenn du den Artikel dann bis Sonntag hast, wäre das klasse”, sagte Christine, verabschiedete sich und legte auf. Also noch einmal kurz sortieren: Ich soll also etwas zum Thema “Sehnsucht” schreiben. “Wäre doch klasse, wenn man deine Travestie als Aufhänger nimmt, so unter dem Gesichtspunkt: Sehnsucht nach Verwandlung”, hatte sie gesagt. Aber wie fange ich denn da an? Gibt es denn da überhaupt eine Sehnsucht? Warum macht es mir denn überhaupt Spaß, mich in eine Rolle zu stecken? Wieso kommen viele damit nicht klar, dass man auch einfach mal das Geschlecht wechselt?

Irgendwie finde ich gerade keine Lösung, weshalb ich zuerst einmal unter die Dusche springen werde, denn die bereitet einem meist einen klaren Kopf. Im Bad steht neben Haargel, Deo und Rasierer der Kulturbeutel mit den Kosmetika für die Auftritte. Dieser lässt sich schon fast nicht mehr schließen, so vollgequetscht wie er ist. Da fällt mir Yvonne ein. Sie hat eine zeitlang in der Wohnung über mir gewohnt und ist Polizistin. Bei einem unsere Nachbarschaftskaffees, zudem ich sie bei einem Treffen im Treppenhaus einlud, fragte sie mich einmal: “Sag mal Ben, darf ich dir einmal eine intime Frage stellen?” “Klar, immer doch, ich muss ja nicht antworten”, erwiderte ich grinsend. “Würdest du mir einmal deinen Schmikkoffer zeigen?”.
Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet, war jedoch gerne bereit ihr dieses kleine “Geheimnis” zu offenbaren. Sie selber trug nie Schminke und war daher sehr erstaunt, wofür man denn acht verschiedene Farben Lidschatten und vier unterschiedliche Rougetöne brauche. “Wofür ist denn dieser Pinsel?” Mich traf ja fast der Schlag. Ich musste doch allen ernstes einer Frau erklären, dass man zum korrekten Schminken der Lippen einen speziellen Pinsel benutzt. Irgendwie schon eine seltsame Situation.
Ich versuchte ihr also darzustellen, dass man eben mit verschiedenen Farben, unterschiedlichen Schattierungen und Betonungen, sehr viel bewirken kann und somit die Möglichkeit hat, in gewisser weise ein Gesicht zu modellieren, indem man mal die Höhen herausarbeitet, ein anderes mal Tiefen einlegt oder sich einfach eine optisch schmalere Nase zaubert.

Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte mich: Mir schaut ein junger Mann entgegen, kurzes Haar, Drei-Tage-Bart, Brille, doch dieses Bild verschwimmt und ich sehe einen jungen Mann, Kontaktlinsen, Kajal und Lidschatten, Lippenstift, gerougte Wangen, Make-up und nur Perücke und Kleid trennen ihn von einer Frau, dann wiederum einen junger Mann, Glatze glattrasiert, das Blid verschwimmt und ein junger Mann taucht auf mit gestyltem halblangen Haar, Goatie... Die Bilder verschwimmen und meine Gedanken mit ihnen. Wer bin ich? Was bin ich? Welche dieser Personen passt zu mir? Bin ich einer? Bin ich viele? Was davon ist Schein? Und was Sein?

Frisch geduscht stehe ich in meinem Zimmer und öffne den Kleiderschrank. Vor mir hängen Hemden, lässige Tops, Hosen, Kleider in schillernden Farben und mit Glitzer, mausgraue Pullover und vieles andere. Ich stehe vor der ersten leidigen Kleidungsfrage: Slip oder Shorts? Wonach fühle ich mich denn gerade eher? Und was ziehe ich drüber? Irgendwie auch viel zu warm gerade. Nach kurzem Hin und Her habe ich mich für eine enganliegende Shorts entschieden und werde es dabei belassen. Schließlich will ich mich ja an den PC setzen und was schreiben, da sieht mich dann eh keiner. Bevor ich jedoch den Schrank wieder schließe, greife ich mir noch schnell die hochhackigen Schuhe und ziehe sie auch an. Ich stelle mich wieder einmal vor den Spiegel: Bin ich jetzt männlich? Oder doch weiblich? Oder doch beides? Zu welchem Teil dann was?

Jetzt sitze ich hier gedankenverloren vor meinem Rechner und weiß gar nicht mehr, was Verwandlung und was ein Teil von mir ist. Doch ist dies nicht etwas ganz Alltägliches, was uns nur meist nicht auffällt? Hat nicht jeder Mensch mehrere Gesichter? Dabei fällt mir gerade Jörg ein. Jörg ist 25, arbeitet in der Bank und trägt daher jeden Morgen Anzug und Krawatte. Wenn man ihm jedoch am Wochenende in unserem gemeinsamen Schwulenclub trifft, so kennt man ihn nicht wieder, da man sich nicht vorstellen kann, dass dieser flippige Kerl in dem paillettenbesetzten Dolce und Gabana-Top der gleiche ist, der montags wieder ganz seriös und geschäftlich wirkt. Oder Susi, die als Bedienung in der Pafümerie immer geschminkt ist, jedoch in ihrer Freizeit ohne Make-up und im gemütlichen Schmuddel-Pulli abends auf der Couch sitzt.

Jetzt fällt mir gerade eine Frau aus dem Dorf ein, aus dem ich komme. Sie habe ich eigentlich immer nur in einer Kittelschürze gesehen, nie in etwas anderem. Moment, das stimmt jetzt nicht, denn zu Karneval hat sie sich eigentlich immer verkleidet. Dann hat sie auch Alkohol getrunken und hat sich total auffällig, fast schon ungehemmt, verhalten. Andererseits hat sie sich danach, wieder in der sicheren Kittelschürze, auch meist dafür geschämt und es kam die Ausrede, es sei ja eben an Karneval üblich, dass die Welt verkehrt sei. Warum traut sich diese Frau nicht einfach auch in ihrem normalen Leben einmal aus sich heraus zu gehen und verrückt zu sein? Was hemmt sie das ganze Jahr über, Dinge zu tun, die eigentlich nicht zu ihr passen? Warum beneidet sie immer die “schicken Frauen”, die mit Schmuck behangen in die Oper gehen? Warum leiht sie sich nicht einmal für einen Abend ein modisches Kleid und geht selbst in die Oper? Warum braucht diese Frau einen Anlass wie Karneval?

Um dieser Frage auf den Grund zu kommen, gehe ich an mein Regal und nehme mein Fotoalbum heraus, in dem ich die Karnevalsbilder aufbewahre. Beim durchblättern kommen viele Erinnerungen hoch und mir fallen sehr viel solcher Frauen und Männer ein, die eben nur an den tollen Tagen zulassen, selber einmal toll zu sein. Ebenfalls in diesem Album sind die Fotos verschiedener Theateraufführungen, die mich auf einen weiteren Gedanken bringen. Man durfte immer wieder die Erfahrung machen, dass es einen enormen Fortschritt in den Proben gab, wenn man das erste Mal im Kostüm spielte. Alleine dieses bischen Stoff war in der Lage, Körperhaltung, Stimme und Ausdruck zu verändern und man hatte ein völlig neues, bis daher ungekanntes Spielgefühl. Die Rolle wurde mit einem Mal greifbar und konkret. Und auch heute merke ich dies immer wieder, wenn ich mich für einen Auftritt fertig mache. Mit jedem Quadratzentimeter Make-up im Gesicht schwindet Ben nach und nach und Cressida tritt langsam in Erscheinung. Das Verhalten ändert sich und man jemand anderes, wobei man streng genommen ja doch derselbe bleibt. Man lernt bis dato ungekannte Seiten an sich kennen und die Rolle, in die man schlüpft zeigt einem, wie wenig man doch von sich kennt.

Warum aber haben viele Menschen Probleme mit solch drastischen Verkleidungen? Warum würden mich jetzt viele für verrückt erklären, so wie ich hier sitze. Nackt und nur in einer knallgrünen, enganliegenden Shorts mit beigen Stöckelschuhen an den Füßen. Warum sind Jörg und Susi normal im Rahmen ihrer Verkleidungen und warum ich nicht? Ist es nicht im Grunde genau das gleiche Prinzip was dahinter steckt? Vielleicht liegt es ja genau daran, dass manche Menschen nicht damit klar kommen, weil sie eben nicht bereit sind auch andere Seiten ihrer Persönlichkeit kennen zu lernen. Man bleibt in seinen Mustern und trägt auch über Jahre die selben auf den Hemden. Um Gottes Willen, bitte nichts außergewöhnliches, man könnte ja vielleicht Spaß daran haben. Und an den Abenden, an denen die Frau aus dem Haus ist, spielt der Mann mit ihrer Reizwäsche.

Allerdings finde ich diesen Vergleich jetzt etwas unpassend, da es ja kein Fetisch ist, den ich hier beschreibe. Ich empfinde ja keinen Kick dadurch, dass ich mich verkleide, sondern erweitere damit ja lediglich die Facetten meiner Persönlichkeit. Es ist ja vielmehr so, dass ich das ausleben möchte, was ich normalerweise nicht bin. Um auch meine Machtgier zu befriedigen, verkleide ich mich als Kaiser Napoleon, meiner femininen Seite zuliebe zwänge ich mich in eine Korsage und des himmlichen Friedens Willen müssen dann auch einmal das weiße Kleid und die Flügel her. Da fällt mir gerade Katja Ebsteins Lied “Theater” ein, in dem es ja auch heißt: Und der Clown, der muss lachen, auch wenn ihm zum weinen ist und das Publikum sieht nicht, dass eine Träne fließt und der Held, der muss stark sein und kämpfen für das Recht, doch oft ist ihm vor Lampenfieber schlecht.

Schlecht ist mir auch gerade, da ich einerseits noch immer nicht ein einziges Wort geschrieben habe und andererseits auch gar nicht weiß, was ich denn zum Thema “Sehnsucht nach Verkleidung” schreiben soll. Wie auch? Habe ich nicht festgestellt, dass es im Grunde genommen keine Verkleidung ist, sondern nur Ausweitung dessen, was wir jeden morgen mit machen? Ist nicht die bewußte Entscheidung, ob man nun das grüne Shirt oder doch lieber das rose Hemd anzieht morgens schon eine Verwandlung des Alltags? Fühlen sich Frauen nicht total verschieden, je nachdem ob sie das Haus morgens geschminkt oder ungeschminkt verlassen? Ist es nicht eben nur die Frage inwieweit ich mich auf mich selbst einlassen möchte? Ob ich bereit bin auch neue Seiten meiner Persönlichkeit kennenzulernen dadurch, dass ich sie einmal in den Vordergrund stelle? Damit wäre vielleicht auch zu erklären, warum viele Menschen Verkleidungen kategorisch als albern bezeichnen und Travestie oder aber auch einen Rudolph Mooshammer oder eine Hella von Sinnen mit ihren schillernden “Alles nichts Oder?”-Kostümen für verrückt erklären. Solche Menschen sind ja auch in gewisser Weise verrückt, weil sie sich nicht mit ihrer oft von außen aufgedrückten Maske zufrieden geben wollen. Sie wollen ihre Grenzen sprengen und mehr sein als nur die Frau in der Kittelschürze, die immer treu und redlich ist bis an ihr kühles Grab.

Irgendwie führen meine Gedanken mich immer weiter von einem Einstieg in das Thema weg und ich habe das Gefühl, dass ich mich auf einer “Reise ins eigene Ich” befinde. Wie gerne würde ich doch die Leser meines Artikels mit auf diese Reise nehmen. Aber das ist es ja. Das ist genau die Idee, nach der ich die ganze Zeit suche. Ich nehme die Leser einfach mit. Ich beginne also ganz am Anfang meiner Gedankenkette und beschreibe sie so, dass man einfach das Gefühl bekommt dabei zu sein. Also dann, fange ich doch gleich mal an. Röcke gerafft, Pumps gespitzt, Mädels, es geht los:

“Wenn du den Artikel dann bis Sonntag hast, wäre das klasse”, sagte Christine, verabschiedete sich und legte auf. Also noch einmal kurz sortieren: Ich soll also etwas zum Thema “Sehnsucht” schreiben. “Wäre doch klasse, wenn man deine Travestie als Aufhänger nimmt, so unter dem Gesichtspunkt: Sehnsucht nach Verwandlung”, hatte sie gesagt. Aber wie fange ich denn da an? Gibt es denn da überhaupt eine Sehnsucht? Warum macht es mir denn überhaupt Spaß, mich in eine Rolle zu stecken? Wieso kommen viele damit nicht klar, dass man auch einfach mal das Geschlecht wechselt?