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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Sonntag, Oktober 24, 2010

Bonn vs Berlin: Ein etwas anderer Nachruf

Der Tod von Loki Schmidt hat mich sehr betroffen gemacht und mein Mitgefühl gilt ganz besonders Helmut und Susanne Schmidt, denen ich nun die Kraft wünsche, derer sie in diesen dunklen Stunden bedürfen. Gerne würde ich nun hier einen Nachruf auf Loki schreiben, sehe mich jedoch außerstande dies zu tun, da ich diese Frau nicht persönlich kannte. Mag heißen, es gibt genug andere Menschen, denen diese Aufgabe eher zukäme.

Deswegen gilt der Nachruf, den ich nun zu schreiben gedenke nicht ihr, jedoch hat ihr Tod ihn insofern initiert, dass mir bei den damit einhergehenden Rückblicken etwas anderes bewusst geworden ist: Die derzeit gefühlte politische Schieflage hat damit zu tun, dass wir unser Politikverständnis der vorliegenden Gegenwart noch nicht ausreichend angepasst haben und somit die „Berliner Republik“ immer noch in den Kategorien der „Bonner Republik“ zu greifen versuchen. Daher nehme ich diesen Impuls nun zum Anlass einen „Nachruf auf die Bonner Republik“ zu verfassen.

Die Bonner Republik existierte bis zum für alle Deutschen wohl überraschensten Ereignis der gesamtdeutschen Geschichte: Dem Fall der Mauer am 9. November 1989. Ab diesem Zeitpunkt war klar, dass nun ein neues Zeitalter angefangen hatte. Doch auch, wenn wir im Rückblick auf die letzten 20 Jahre von der Berliner Republik sprechen, so will ich behaupten, dass diese nur insoweit existent ist, als dass sie als begriffliche Abgrenzung zur alten BRD dient. Denn was machte die letzten beiden Jahrzehnte aus?

Die 90er Jahre waren bis zur Abwahl Helmut Kohls im Jahre 1998 eine Zeit der Umbruchs einerseits und der Stagnation andererseits. Der Umbruch, bedingt durch die deutsche Einheit, verlangte der Politik ab, dass sie fast schon unmöglich zu lösende Probleme zu bewältigen hatte: der Umzug nach Berlin, die politische und mehr noch wirtschaftliche Zusammenfügung der beiden Teilstaaten, die Förderung eines Aufschwungs Ost, die Bewältigung der Vergangenheit sowie die Positionierung innerhalb eines gerade erst entstehenden gesamteuropäischen Gefüges. Es ist verständlich, dass dadurch eigentlich ebenso wichtige Fragen, die die BRD eigentlich damals hätte bewältigen müssen, wäre der Mauerfall nicht gewesen, liegen blieben: Fragen der Gesundheits- und Rentenpolitik und Reformen im Sozialsystem, um nur einige Aspekte zu nennen.

Dann kam die Ära Schröder, die eben diese Probleme durch einen Politikwechsel zu lösen versprach, was ihr in Ansätzen auch gelungen ist. Doch drehte die Welt sich weiter und es kamen neue Herausforderungen auf das neue, vereinte Deutschland hinzu. Das Jahrzehnt der 00er, die Engländer nennen es „the Noughties“, war eine Dekade, die wirklich eine symbolische Repräsentanz in der Null findet. Ein durch Krisen dominiertes Jahrzehnt, sei es wirtschaftlich (von Internetblase bis zur Finanzkrise) als auch politisch (Stichwort: 11. September). Auch hier erwuchsen Probleme, die dringender waren als eine gründliche Selbstfindung des neuen Deutschlands.

Somit stehen wir heute an einem Punkt, an dem so vieles paradox erscheint, weil wir noch nicht in der Berliner Republik, die ganz anders funktioniert als der Bonner Vorgänger, angekommen sind und immer noch – gerade auch in den Medien – in Bonner Kategorien denken. Um nur einige dieser Paradoxien zu benennen, die natürlich nicht nur darauf zurückzuführen sind aber auch, dies Tatsache des Nichtangekommenseins jedoch verdeutlichen: Erstmalig scheint eine Regierung sich nicht zurücklehnen zu können, wenn die Wirtschaft boomt, erstmalig ist es auch so, dass die Umfragewerte eines Außenministers fast die schlechtesten innerhalb der Regierung sind und erstmalig fordert ein liberaler Politiker Lohnerhöhungen. Dies sind nur einige Indikatoren, die anzeigen, dass die politische Klasse (und dies nicht nur seit gestern) mit einer gewissen Orientierungslosigkeit zu kämpfen hat. Das Stystem scheint aus den Fugen.

Ich möchte nun versuchen, es kann nur beim Versuch bleiben und ist natürlich aller Vollständigkeit entbehrend, einige Aspekte aufzuzeigen, die unser demokratisches Gefüge – so wie wir es in der Bonner Republik kannten – verändert haben:

a) Elder Statesmen und parlamentarische Rivalen in Absentia
Der Staatsmann nach alter Tradition hat ausgedient. Es gibt sie nicht mehr, die elder statesmen. Es ist auch fraglich, ob diese in der heutigen Politik überhaupt noch eine Berechtigung haben. So kommt es, dass die Begeisterung, die ein Karl-Theodor zu Guttenberg auslöst, fast schon als letztes, anachronistisch-nostalgisches Aufbäumen hinsichtlich dieser nicht mehr existenten Vaterfiguren erscheint. Die Gediegenheit von Figuren wie Konrad Adenauer, Willy Brandt oder auch noch Helmut Schmidt ist passé. Heute bedarf es anderer Qualitäten auf dem politischen Parkett. Der Umgang mit den Medien, die rasante Geschwindigkeit der Entwicklung auf sämtlichen politischen Feldern und die dafür nötige Flexibilität verlangen den zeitgenössischen Politikern ganz andere Fähigkeiten ab. Allerdings habe ich das Gefühl, dass wir alle dies noch nicht zu Genüge verinnerlicht haben und diese Leitfiguren noch immer suchen. Auch innerhalb des Parlamentes fehlen die Führungsfiguren und es kommt nicht mehr zu Debatten wie in den Zeiten von Wehner und Strauß. Die Parteien wirken wie Mannschaften ohne Spielführer und in der Kakophonie parlamentarischer Meinungsvielfalt bleibt eine richtungsweisende Grundlinie aus. Keine Partei hat einen Bauern, der in der Lage ist, Ruhe in den Stal zu bringen, was ein ewiges Gegackere mit sich bringt.

b) Kartographie der Parteienlandschaft
In Bonn gab es drei Parteien, die sich arrangieren mussten – ich lasse die Grünen einmal außen vor, da diese in der alten Republik einen rebellischen Sonderstatus hatten und zumindest rückblickend gewisserweise als Vorbote des Endes gewertet werden können, da sie nicht mehr die Gelegenheit bekamen, in der Bonner Republik wirklich anzukommen, auch wenn eine Kausalität hier nicht vorliegt. Heute jedoch haben wir ein Fünfparteiensystem, manch einer spekuliert sogar schon über eine etwaige sechste Partei. Somit ist eine gänzlich verschiedene Situation entstanden. Volksparteien im klassischen Sinne gibt es nicht mehr und die Zeit, in der ein Großteil der (noch nicht ganz demokratisierten) Bevölkerung meist tradierte Kreuze auf dem Wahlzettel macht, ist endgültig vorbei. Umfragewerte und Wechselwählertum dominieren das heutige Geschehen. Auch haben Stimmungen heute mehr Einfluss auf die politische Ausrichtung der Parteien als Stimmen.

c) Welt der Politik in der Weltpolitik
Die alten Blöcke sind weggebrochen, der große Weltkonflikt hat sich aufgelöst. Heute bedroht uns nicht mehr ein Gefüge mehrerer Nationalstaaten und wir selber finden uns zwar in einem internationalen Gefüge, allerdings sieht dies jetzt einem „Feind“ gegenüber, der nicht mehr in den Grenzen von Staaten auszumachen ist. Sieht man den internationalen Terrorismus als den neuen Feind an, so handelt es sich hierbei ebenfalls um ein internationales, weltuspannendes Gefüge, das allerdings, und dieses Faktum verlang ein ganz anderes Handeln als ehedem, jenseits der Oberfläche im Untergrund agiert. Die Bekämpfung der Bedrohung ist nicht mehr nur Teil der Außenpolitik und kann auch nicht mit Diplomatie gelöst werden, vielmehr hat sich die Weltpolitik in die Hinterzimmer der Innenpolitik geschlichen und fordert auch dort nun nach Beantwortung dringender Fragen.

d) Teile des Ganzen – der Föderalismus
Es war vergleichsweise einfach die Interessen von neun Bundesländern zu koordinieren und auch die Zusammensetzung des Bundesrates ging langsam vonstatten, so dass einer Blockadepolitik, die es zwar damals auch schon gab, Grenzen gesetzt waren. Heute besteht die Länderkammer jedoch aus 16 Mitglieder, was mit sich bringt, dass durchschnittlich pro Jahr vier Landtagswahlen anstehen. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass diese Situation auch dazu führen musste, dass eine Verwischung von Bundes- und Landespolitik stattfindet und der Bund immer wieder sein Handeln nach anstehenden Wahlen ausrichtet. Umso mehr, als nun ein Kippen des Bundesrates wesentlich schneller eintreten kann als noch in alten Tagen.

e) Europas Kinderschuhe
Das heutige Europa steckt, das wird man in ein oder zwei Jahrzehnten sicherlich so sehen, noch in den Kinderschuhen. Zumindest insofern, als es ein noch oftmals unkoordinierter Gesamtorganismus zu sein scheint. Ein sich für Deutschland ergebendes Problem daraus ist, dass wir zwar unseren Standpunkt innerhalb der europäischen Union gefunden haben, jedoch noch nicht zur Gänze verinnerlicht haben, was denn Europa ist. Der Kontinent entwickelt sich zunehmend zu einem gemeinschaftlich innenpolitischen Raum, der nur dann eine Chance auf dem Weltparkett haben kann, wenn er als Einheit agiert. Dies bedeutet jedoch, dass die einzelnen Nationalstaaten massiv Kompetenzen an die Gemeinschaft abtreten müssen. Im Falle Deutschlands, welches an sich ja schon bundesstaatlich organisiert ist (laut Verfassung liegt die Staatlichkeit bei den Ländern, nicht beim Bund), ist dies eine große Herausforderung, deren Ausmaß auch hier noch nicht ganz verstanden ist.

f) Verpasste Chance
Nicht nur hinsichtlich der Legitimation der Einheit, auch bezüglich eines geordneten Übergangs zwischen der Bonner und Berliner Republik, hätte man vor 20 Jahren die Chance gehabt, grundlegende Strukturen zu überarbeiten. Man hätte können in den Einheitsvertrag aufnehmen, dass die Einheit zwar Übergangsweise über den alten Artikel 23 geschieht, jedoch parallel dazu ein neuer parlamentarischer Rat gebildet wird, welcher eine endgültige Reorganisation im Sinne des Artikels 146 vorbereitet. Man hätte dies als ein langfrisiges Projekt anlegen können, bei dem man sich auch gerne mal zehn oder zwanzig Jahre Zeit lässt. Dieser Rat hätte dann natürlich nur von Personen besetzt sein dürfen, die nicht aktiv in der Tagespolitik tätig sind und sich daher ganz der Neuordnung Deutschlands hätten verschreiben können. Hier hätte man dann auch neu entstandenen Bedürfnissen gerecht werden können und aktuelle Tendenzen aufgreifen können. Man hätte beispielsweise plebiszitäre Elemente einführen, Bundesländer neu ordnen oder das Steuersystem reformieren können. Vieles wäre in einer neuen Verfassung denkbar gewesen. Da dies jedoch nicht geschehen ist und die Notwendigkeit dafür nach nunmehr 20 Jahren nicht mehr bestehst beziehungsweise auch nicht mehr vermittelbar wäre, bleibt uns nur, das Grundgesetz immer wieder in Einzelpunkten den faktischen Gegebenheiten anzupassen.

Auch wenn eine wie auch immer geartete Zusammenstellung solcher Aspekte nie eine ausreichende Beschreibung des Übergangs wird darstellen können – ich sagte ja, es bliebe bei einem unvollständigen Versuch –, so sollten wir uns doch bewusst sein, dass die Berliner Republik sich einfach aufgrund der Umstände der letzten beiden Jahrzehnte und der anhand der Einzelpunkte jeweils gravierenden Einschnitte noch gar nicht hat finden können. So verwundert es nicht, dass sowohl Politiker, Kommentatoren und Bürger noch in gewohnten Denkstrukturen verhaftet sind, die sie auf das neue System zu übertragen versuchen. Es wird noch einiges an Umdenken kosten, bis wir alle in dem status quo angekommen sind.

2 Comments:

Anonymous Anonym said...

Mal wieder ein sehr gelungener Denkanstoß!

Doch, in Bezug auf b), könnte man vielleicht mitaufnehmen, dass die etwaige sechste Partei den Platz einer möglicherweise ausscheidenden Partei einnimmt, da diese, aktuellen Umfrage zufolge, wohl an der 5%-Hürde zu scheitern droht.Ich denke auf welche Partei ich mich hier beziehe ist des Aussprechens nicht von Nöten =)

11:38 PM  
Anonymous Johanna said...

Loki Schmidt war eine wunderbare Frau. Sie ist ein Vorbild für viele Frauen in Deutschland. Eine derartig starke Frau wird Deutschland sicher nicht noch einmal sehen.

2:46 PM  

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