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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Donnerstag, September 08, 2005

1984 – eine Korrektur

Ausgelöst durch einige Vorkommnisse unterschiedlichster Art in den letzten Tagen, beschäftige ich mich gerade ziemlich intensiv mit dem Gedanken einer vernetzten Welt, in der man die Möglichkeit besitzt auf jedewede Art von Information zurückzugreifen.

Aber fangen wir vorne an: Im Jahre 1949 veröffentlichte George Orwell seinen utopischen Roman 1984, in dem er ein Szenario des totalen Überwachungsstaates abbildete. In seiner Fiktion war eben das Titeljahr der Zeitpunkt in der geschichte der Menschheit, an dem ein solches System in seiner Gänze entfaltet sei. Jedoch durften wir Gott sei Dank feststellen, dass er Unrecht hatte. Aber dürfen wir das wirklich? Werden wir nicht jeden Tag überwacht? Hinterlassen wir nicht überall unsere Spuren? Sind wir nicht überwacht auf Schritt und Tritt?

Ich denke Orwell hatte beides: Recht und Unrecht. Die von ihm beschriebene Zentralüberwachung existiert nicht, was jedoch existiert ist der gläserne Mensch, wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang.

Es gibt eine Theorie nach der man zwei beliebige Menschen auf der welt durch nur 6 Bekannte miteinander verbinden kann und diese konnte bisher noch nicht widerlegt werden. Und selbst, wenn ich mich hier bei Gayromeo umschaue, so stelle ich fest, dass es sehr leicht möglich ist zu einer x-beliebigen Person innerhalb weniger Verlinkungen zu gelangen, wenn auch die Wege manchmal irrational verlaufen und man zuerst in die scheinbar falsche Richtung gehen muss um den kürzesten Weg zu finden.

Wenn ich in mein Profil schaue (und ich tue dies jetzt nicht aus einer egozentrischen Idee heraus, sondern weil ich als mein eigenes Beispiel nicht Gefahr laufe, dass Ärger entsteht), so sind dort aktuell 134 Personen verlinkt, die ich alle im realen Leben kenne (denn das ist eine der Vorraussetzungen, die ich an eine Verlinkung stelle). Weiterhin steht dort die Information: “Insgesamt haben ihn 115 User gespeichert und als persönlich bekannt markiert. Diese sind wiederum bei 2671 weiteren Usern als perönlich bekannt gespeichert.” Eigentlich ein erschreckender Gedanke, da ich der Tatsache ins Auge schauen muss, dass knapp 3000 User sehr schnell und einfach an Informationen über meine Person herankommen. Wenn ich nun eine Stufe weitergehen würde und zudem bedenke, dass sich diese Zahlen ja auch nur auf einen kleinen Ausschnitt der Welt beziehen und es ja noch wesentlich mehr Menschen außerhalb von Gayromeo gibt, die mich direkt oder indirekt kennen, so kommen leichte Schwindelgefühle in mir auf angesichts der Tatsache, dass jeder dieser Menschen ein kleines Puzzleteil meiner Persönlichkeit kennt, manche größere und wichtigere, manche eher nur Teile die die Periphärie betreffen.

Wenn man nun ein Buch rundgehen lassen würde, in das jede dieser Personen die Informationen über mich schreiben würde, so denke ich würde darin so viel stehen, dass ich selbst beim Lesen zum einen das Gefühl hätte, dass ich total Gläsern und durchschaubar bin, zum anderen würde ich vielleicht feststellen müssen, dass ich mich selber überhaupt nicht kenne, denn oftmals sind ja Einschätzungen anderer treffender als einem lieb ist.

Andererseits ist es ja auch so, dass es nicht nur diesen inoffiziellen Informationsfluss gibt, sondern auch Institutionen Informationen über mich haben, wie beispielsweise wo und was ich wann mit meiner Karte bezahlt habe, was ich wann verdiente, selbst Krankheitsbilder, Reiseziele, Bestellinformationen, aufgerufene Websites und vieles anderes mehr sind dank moderner Technologie und Archivierung zurückverfolgbar. Und damit sind wir genau an dem orwellschen Punkt angelangt: Ich bin gläsern! Jedoch mit der Einschränkung, dass diese Informationen nicht zentral verfügbar sind sondern getrennt in viele Richtungen verstreut liegen.

Ich wäre jedoch nicht ich, wenn ich nicht - und dahingehend kenne ich mich sehr gut – wieder etwas Positives in der ganzen Sache sehen würde. Ich musste auch nicht lange suchen, um zwei Aspekte zu finden. Denn einerseits kann es mir nur recht sein, dass man viel über mich weiß, damit ich dann vielleicht eines Tages nicht mehr sinnlos mit Informationen und Angeboten konfrontiert werde, die mich nicht interessieren. Denn wenn man mein Kaufverhalten überall einsehen könnte, würden vielleicht lästige Windelwerbungen nicht mehr in meinem Briefkasten landen und auch das Papier für den Pfarrbrief könnte gespart werden. Es ist mir immer eine große Freude, wenn ich mich zum Beispiel bei amazon einlogge und dort meine persönlichen Empfehlungen abrufe, wie gut ich doch dort beraten werde alleine durch die Tatsache, dass dort bestellte Bücher gespeichert werden und unter Einbeziehung der Bestellungen anderer eine Palette generiert wird von Artikeln die mich eventuell interessieren könnten. So dass ein buntes Konglomerat entsteht aus wissenschaftlicher Studienlektüre, schwuler Trivialliteratur, Büchern über Sprache, Weltliterarischen Werken und vielem mehr. Immer nach dem Prinzip: Kunden, die dieses Buch bestellten, bestellten auch..... Perfekt auf mich abgestimmt und mit einem Kollektivbewußtsein untermauert.

Andererseits gibt mir diese Vernetzung natürlich auch die Möglichkeit, da Informationsfluss ja immer auch vice versa funktioniert, dass ich auf jedwede Information zurückgreifen kann. Denn diese zigtausend Menschen können ja nicht nur auf mein Wissen zurückgreifen, sondern ich kann ebensogut auf das Wissen von mehreren tausend Menschen zugreifen und leicht Dinge in Erfahrung bringen, die mir sonst, wäre ich auf mich alleine gestellt, verschlossen blieben. So ist es gerade in meinem aktuellen Job als wissenschaftliche Assistenz sehr hilfreich, wenn man nicht alle Texte zu dem betreffenden Thema lesen muss alleine aus der gewissheit heraus, dass andere diese schon gelesen haben und mir in ihren Texten Auskunft über die Wichtigkeit und Argumentation der Ursprungstexte geben können.

Somit kann ich eine solche Vernetzung nur willkommen heißen und gehe diesen “Kuhhandelo” gerne ein, wissend, dass je mehr Menschen etwas über mich wissen und je mehr Menschen mich kennen (oder zu kennen scheinen) sich meine Möglichkeiten dann auch potenzieren und ich in gewisser Weise nach und nach auf alles Wissen der Welt leichten Zugriff bekomme und viele für mich uninteressante Dinge dadurch von mir fernhalten kann, eben weil man über mich weiß, dass es nicht von Belang ist und ich durch Zielgruppenprofile falle oder ähnliches.

Dieser Gedanke steht im Grunde ja auch hinter jeder Vernetzung: Das Prinzip, dass man gezielt Informationen austauschen kann und Wissen akkumuliert ohne, dass der Einzelne alles wissen muss. Das zeichnet sich immer wieder in Informationsbeschaffungsunternehmen, Interessenverbänden, Geheimbünden, staatlichen Institutionen, Wissenschaftsarchiven und vielen anderen Vernetzungsmedien ab.

Somit muss ich nicht nur Orwell korrigieren, sondern auch die sokratische Aussage “Ich weiß, dass ich nichts weiß” modifizieren und kann sagen:
“Ich weiß, dass ich alles weiß, wenn ich nur weiß wie ich an dieses Wissen herankomme.”

Und dies zeigt uns einmal mehr, dass wir von unserem hohen Ross der Individualität heruntersteigen sollten und endlich akzeptieren müssen, dass wir Teil eines großen Ganzen sind und jede Veränderung die wir herbeiführen Auswirkungen nach außen hat und dies auch umgekehrt der Fall ist.