Schöne Aussicht
Die erste Reaktion eines Freundes hätte können nicht klischéehafter sein. Er sah mich und fragte, warum ich mich denn so schick gemacht habe. “Ich schick? Bin doch ganz normal.” “Nee, aber du siehst anders aus, die Frisur und so.” Jaja, die gute alte Frisur. Aber man kennt das ja...
Dabei laufe ich heute schon den ganzen Tag wie auf Wolken durch die Stadt. Oder sollte ich doch sagen wie in einem heftigen Rausch? Jedenfalls ist es eine komplett neue Wahrnehmung, da die Welt so klein wirkt, weil man alles so scharf sieht, sie jedopch gleichzeitig groß wirkt, da man ja die Dinge in der Ferne noch sieht. Das Weite rückt näher und man wundert sich, wieviel man doch bisher verpasst hat. Auch die Menschen werden schöner, dadurch, dass man nun endlich mal sieht wie häßlich sie doch sind. Denn jetzt ist wirklich jede Falte selbst im Verbeigehen sichtbar, jedoch haben die Gegenüber nun auch wieder Kontraste und klare Linien und sehen nicht mehr so 2-dimensional aus wie schlecht Kopien eines Kommander Data.
Doch das Hauptproblem des heutigen Tages neben diesem Schwebegefühl waren Glastüren – die Feinde eines Neubebrillten. Also eigentlich ist es ja gar nicht die Schuld der Türe, dass ich gegen sie gelaufen bin, sondern eher die Tatsache, dass ich das Schild “ziehen” übersehen habe und versuchte mir mit Drücken Durchgang zu verschaffen. Jetzt mag man sich fragen, wie mir denn das passieren kann, dass ich trotz meiner neuen Brille etwas übersehe, was doch eigentlich wesentlich besser zu sehen sein müsste als in der Vergangenheit. Wer sich jetzt schon eine Erklärung darin sucht, dass ich ja kurzsichtig bin und die Brille ja nur die Weitsicht nicht aber die Wahrnehmung der Nähe verbessert hat, der liegt leider auf der falschen Spur. Im Grunde genommen ist die Brille eben an diesem Debakel schuld, oder besser gesagt die verbesserte Sicht, die es mir nun ermöglicht durch die Glastüre hindurch den netten, jungen Mann am Ende des Ganges klar zu erkennen und mich auf ihn starren zu lassen, so dass ich gar nicht mehr darauf achte, ob auf der Türe nun “drücken” oder “ziehen” steht.
Wie dem auch sei, so freue ich mich jedoch sehr über mein neues Nasenfahrrad und werde jetzt nicht nur im eigentlichen Sinne in die Weite schauen, denn auf der metaphorischen Ebene wird auch einiges momentan klarer, was sich bisher nur der dunst des Schimmers eines Anscheins war.
Und somit schließe ich mit den Worten eines ehemaligen Lehrers, der immer, wenn man ratlos vor der Tafel stand, zu sagen pflegte:
Geh ma a Schritt z’rück, da kannscht’ des aus der Ferne näher betrachte.
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