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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Donnerstag, Oktober 27, 2005

Das Problem mit dem deutschen Präteritum

Gestern fand „der Große Zapfenstreich“ vor dem Reichstagsgebäude in Berlin zum 50jährigen Bestehen der Bundeswehr der Bundesrepublik Deutschland statt. Erstmalig in der Geschichte der Republik wurde dieser direkt im Herzen Berlins zelebriert. Jedoch ebenfalls im Herzen unserer Hauptstadt fanden Gegendemonstrationen zu diesem Ereignis statt. Heute Morgen in den Nachrichten hörte ich dann den Kommentar eines Demonstranten, der meinte, wer die deutsche Geschichte kenne und dies gut heiße, der hätte nichts verstanden. „Moment einmal“, dachte ich mir sofort, „so bitteschön nicht!“

Lieber Herr Demonstrant, auch wenn sich ihr Geschichtsverständnis auf einige wenige Jahre, namentlich die Jahre 1933-1945 und zudem das Jahr 1968, in dem sie geistig wohl stehen geblieben sind, so muss ich Ihnen mitteilen, dass die deutsche Geschichte, sowohl davor, dazwischen und danach auch noch einiges zu bieten hatte. Na gut, sie können jetzt in der Weise argumentieren, dass dies eine militärische Parade sei und sich somit die Assoziation zu einem der schwärzesten Kapitel der Deutschen aufdränge, jedoch sollten sie sich vorrangig einmal überlegen, was denn dort überhaupt gefeiert wird.

Auch wenn ich kein Verfechter militärischer Einsätze bin und auch selber den Dienst an der Waffe verweigert habe, so ziehe ich dennoch ehrfürchtig den Hut vor Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen um uns ein sicheres Leben, in welcher Form auch immer, zu ermöglichen. Während des kompletten kalten Krieges waren sie doch auch froh, dass wir eine Armee hatten, die uns im Ernstfall verteidigt hätte und auch können sie nicht übersehen, dass gerade die Deutschen, wie wir sehen konnten, nicht sinnlos in Kriege ziehen, sondern sehr gezielte Einsätze bestreiten, fernab ökonomischer Interessen sondern mehr aus einem internationalen Verantwortungsbewusstsein heraus.

Zudem überlegen sie sich mal, wenn sie schon ihr Geschichtswissen auspacken, in welchem Zusammenhang der Zapfenstreich eingeführt wurde. Es war zu Zeiten, als schon einmal jemand versuchte ganz Europa unter seiner Hegemonie zu vereinigen. Und auch wenn die folgende Überlegung jetzt sehr unwissenschaftlich ist, so wage ich zu behaupten, dass auch Napoleon zu anderen Waffen gegriffen hätte, wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte, schließlich hat dies ein Stalin auch getan. Somit sehen sie schon, dass Deutschland nicht als einzige Nation Dinge im Vergangenen schlummern hat, die man lieber rückgängig machen würde.

Ich will keinesfalls nun die Zeit des dritten Reiches jetzt schön reden – ganz im Gegenteil. Ich denke, man sollte diese nie vergessen. Allerdings denke ich, dass man auch lernen muss, damit umgehen zu können und es ist keinem geholfen, wenn wir in der dritten Generation danach immer noch auf dem Sünderbänkchen knien und uns jeden Morgen nach dem Erwachen ins Gedächtnis rufen, was für ein schlimmes Volk wir doch sind. Denn so funktioniert Geschichte leider nicht und selbst das Ausland schmunzelt hinter vorgehaltener Hand über den Deutschen, der sich noch immer in schwarz kleidet aufgrund von Dingen, die lange zurückliegen.

Wir haben, so denke ich, in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass wir aus diesem Fehler gelernt haben und können uns dank einer wehrhaften Demokratie relativ sicher sein, dass so etwas nicht noch einmal geschieht. Es ist ja nicht so, als sei das Böse in unseren Genen verankert, denn vorher als auch nachher war und ist Deutschland immer sehr verantwortungsvoll mit der innereuropäischen Politik umgegangen und das trotz einer ziemlich geopolitisch kritischen Lage und das, was das deutsche Volk 1989 geleistet hat, soll uns einmal jemand nachmachen. Wir haben uns gewaltfrei wieder vereinigt und einem System ohne Waffen den Todesstoß versetzt.

Viel erschreckender hingegen finde ich, dass sie vor lauter falsch-negativem Nationalgefühl nicht mitbekommen haben, was etwa gleichzeitig an anderen Orten der Erde passierte, denn dort forderte man wieder die Auslöschung eines Volkes und somit haben sie leider an der falschen Stelle gesucht. Somit sei ihnen nur geraten, dass sie einmal über die deutschen Grenzen hinaus und andere Zeitabschnitte hinein schauen, denn dort werden sie dann Dinge sehen, die wesentlich aktueller und somit auch brisanter sind. Denn eins steht fest: Sie können die Zeit auch nicht wieder zurückschrauben.

Doch da ich mich gerade schon einmal mit der Vergangenheit und deren Bewältigung beschäftige, so fällt mir ein weiterer Gedanke ein, der mir in der vergangenen Woche ins Gedächtnis kam. Die Nichtwahl Lothar Biskys zum Vizepräsidenten des Parlaments hatte laut Kommentatoren zwei potentielle Gründe. Zum einen, dass man die Linkspartei in eine gewisse Pariarolle stecken wollte, was ich jedoch nicht denke, da dies dann mehr als heuchlerisch wäre angesichts des Applaus, den man Bundespräsidenten Lammert nach Erwähnung des Anrechts einer jeden Fraktion auf ein solches Amt, gewährte. Zum anderen ging man davon aus, dass das Ergebnis mit Biskys Person in Zusammenhang stünde, dem man ja eine Stasivergangenheit nachsagt.

Doch selbst wenn dem so wäre, finde ich, ist dies kein Grund, ihn heute noch dafür abzustrafen. Dieser Mensch hat in einem System gelebt, dass zugegebenermaßen recht differente Moralvorstellungen zu den unseren hatte. Jedoch kann ich es nicht glauben, dass unsere Damen und Herren Politiker, die durch Gottes Hand auf der „richtigen“ Seite der Mauer aufgewachsen sind, sich allesamt innerhalb der DDR gegen ihren Staat aufgelehnt hätten, zumal dies schon sehr fraglich ist, wenn man sich anschaut wie lobbyistenhörig einige dieser Personen doch sind.

Außerdem hatten wir ja auch keine Probleme damit, jemanden, der seinem Staat entflohen war statt sich innerhalb dagegen aufzulehnen, zum Bundeskanzler zu wählen. Ihm haben wir damals seine Feigheit alle, mit Ausnahme von Alfred Tetzlaw, verziehen, allerdings sollten wir das nicht nur getan haben, weil er damals die „richtige“ Seite vertrat.

Und geben wir doch mal zu: wenn wir jeden, der nicht das Glück hat, in einer freien Demokratie zu leben aufgrund seines Handels verurteilten, dann wären wir doch schnell wieder bei dem lieben Demonstranten, der ebenso wenig verstehen kann, dass eine Bewertung immer unter Einfluss vieler verschiedener Gesichtspunkte zu erfolgen hat, die meist gar nicht alle erfasst werden können.

Wer ohne Schuld ist und weiß, dass er es in einer vergleichbaren Situation auch sein würde, der werfe den ersten Stein.

P.S.: Als Jesus dieses Zitat äußerte, da kam ein großer Felsbrocken geflogen und erschlug die Ehebrecherin. Daraufhin schaute Jesus durch die Menge, entdeckte in der letzten Reihe eine kleine, alte Frau und rief: „Mutter, musst du mir denn alles versauen?"