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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Dienstag, Juni 14, 2005

Das verschossene Pulver der Einsicht

Habe heute Abend den Film Kinsey gesehen, den ich nur jedem wärmstens empfehlen kann. Direkt im Anschluss daran hatte ich eine hitzige Diskussion über das leidige Thema der wissenschaftlichen Einsicht in die Privatsphäre der Menschen verknüpft mit der Diskussion um Pro und Contra des Aids-Antikörper-Tests. Da mein Gegenüber mit guten Argumenten den Standpunkt vertrat, dass man sich besser nicht testen lassen solle, unter anderem deswegen, weil eben die Diagnostizierten ausgeschlossen würden und ihnen nicht der Beistand zuteil würde, den sie benötigten und somit ihr Leben durch ganzheitlich-psychische Zusammenhänge immens verkürzt würde, so blieb ich jedoch auf dem Standpunkt, dass eben jene “Opfer” des Ausschlusses, so hart das auch klingen mag, nötig seien, um der Gesellschaft die Problematik vor Augen zu führen und sie zur Problemlösung zu animieren.

Nachdem ich auf dem Heimweg lange darüber nachgedacht habe, hat sich meine Meinung über die Erkenntnisbildung des Menschen im Generellen insofern verfestigt, dass ich denke, dass der Mensch immer zuerst Verluste verzeichnen muss, bevor er sich seines Verstandes bedient und es somit unsere Pflicht ist, Verluste aufzuzeigen um somit das Problem zu beleuchten.

Es läuft immer wieder darauf hinaus, dass ein gewisser Aspekt im Prozess der Enttabuisierung gewisse Schäden anrichtet, bevor er daraufhin die Lösung in Gang setzt. Man könnte dies mit der Erstverschlimmerung der Homöopathie vergleichen. Es müssen immer erst eine größere Zahl tödlicher Unfälle an einer Kreuzung passieren, bevor eine Ampel in Betracht gezogen wird. Ebenso notwendig waren die Schlägereien 1969 in der Christopher Street um der welt zu zeigen, dass Homosexualität existiert und das selbst nachdem Alfred Kinsey etwa 15 Jahre zuvor eben dies in seinen Studien aufgezeigt hatte. Und erst 1993, nachdem man die 9. Fassung des International Code of Deseases (ICD) überarbeitet hatte, war Homosexualität als Krankheitsbild im ICD-10 verschwunden und man diagnostizierte von nun an nur noch die psychischen Schäden, die als Begleiterscheinung Homosexueller oft auftreten und die wir heutzutage (in offenen Gesellschaften) auch weitestgehend in den Griff bekommen können.

Genau dort setzte in der Diskussion mein Vergleich an. Wir haben nun festgestellt, dass es Aids-Betroffene gibt und Kinsey hinter uns gelassen, auch haben wir schon Opfer gebracht und erste Erfolge erzielt. Dies befreit uns jedoch nicht aus der Lage, dass wir noch nicht am Ende sind, denn es leiden immer noch genug Menschen unter den psychischen Konsequenzen ihrer Krankheit und diese Opfer dürfen wir nicht schonen, indem wir die Diagnose nicht feststellen, sondern müssen vielmehr dafür sorgen, dass man sie auch auffängt, wenn sie ihr Urteil erfahren.

Allerdings ist unsere Gesellschaft noch nicht soweit, dies überhaupt zu realisieren, wobei ich wieder bei dem Kernpunkt meiner Gedanken angekommen wäre.

Natürlich kann man nun einwerfen, dass dies alles absehbare Zusammenhänge seien, jedoch sind wir leider Gottes nicht der Homo Sapiens, der denkende Mensch, der wir immer zu sein glauben. Man kann die Gesellschaft, die traurigerweise in ihrer Gesamtheit dumm wie Bohnenstroh ist, nicht mit Gedankenexperimenten und Utopien auf etwas aufmerksam machen, sondern muss sie so lange mit dem Kopf auf die Tischplatte stoßen, bis sie endlich den Schmerz wahrnimmt. Dahingehend sind wir eher noch der Homo Errectus, eben jenes Wesen, dass sich langsam aus dem Schlamm erhebt und sich peu a peu seinem Ziele nähert.

So bitter diese Pille auch sein mag, so müssen wir doch immer wieder feststellen, dass beim hobeln nun mal Spähne fallen bevor die Figur das Regal ziert. Und vielleicht ist es wie mit der Arbeitslosigkeit: Man macht sich erst Gedanken um die Lösung, wenn jeder Vierte betroffen ist.