Fleur de l‘Age
Es gibt einen Geruch – wobei Geruch hier der falsche Begriff ist, ist es doch vielmehr nur eine Note –, den wohl jeder kennt, aber über den man in der Regel nichts liest oder hört, da es kein angenehmer Aspekt des menschlichen Lebens ist. Ein Duft, den man mit alten Männern in Verbindung bringt. Ich meine nicht einen bestimmten greifbaren Geruch, wie etwa schlechter Atem, Schweißgeruch oder Ähnliches, es geht um eine ganz bestimmte Note, die, soweit ich dies bisher erlebt habe, mit zunehmendem Alter deutlicher hervortritt und bei sehr alten Menschen – wobei ich denke, dass ich sie bisher nur bei Männern wahrgenommen habe – ein Grundbestandteil des meist bitter-säuerlichen Eigengeruchs ist. Gerade merke ich, wie schwer es ist, dieses Phänomen zu beschreiben und ändere angefangene Sätze häufiger als üblich. Vielleicht hilft es, wenn ich versuche zu beschreiben, wann man diese Note wahrnimmt. Man nimmt sie zum Beispiel bei Männern mittleren Alters wahr, dann jedoch meist nur ganz kurz, so dass beim zweiten, zur Kontrolle angesetzten Einatmens, eben diese Note wieder verflogen zu sein scheint. Je älter das Gegenüber jedoch ist, desto häufiger und auch länger und deutlicher nimmt man sie wahr. Sie hat nichts mit einem wie auch immer gearteten Eigenduft zu tun, der ja bei sämtlichen Menschen verschieden ist, sondern scheint etwas Universales zu sein, da sie immer gleich ist. Assoziativ lässt dieser Geruchsbestandteil an Vergängliches denken, man nimmt ihn zum Beispiel auch in Kellern und auf Speichern wahr, wo es „irgendwie alt“ riecht.
Jedenfalls dünkte mir, ich röche diesen Geruch, zumindest für den Bruchteil einer Sekunde. Sofort war mir bewusst, dass ich es war, was ich gerochen hatte. Dies belegt auch gewissermaßen die Annahme, dass es sich hierbei um keinen der üblichen Körpergerüche handelt, da ich ja gerade erst dem Badewasser entstiegen war und an sich, was ein zweites Nachriechen mir auch bestätigte, frisch und sauber roch. Dennoch war er für kurze Zeit da, dieser „Duft des Alters“, den ich in Ermangelung eines passenden gesetzten Begriffes, im Folgenden einfach „Fleur de l’Age“ nennen werde, in Anlehung an mein Lieblingsparfum „Fleur du male“ von Gaultier und als euphemistische Beschreibung, um nicht von „Verwesungsgestank“ reden zu müssen. Denn gerade fällt mir ein, dass auch in Gegenwart von Leichen, diese Note sehr dominant ist.
Geschockt von diesem Hinweis des Alters, dass es fortschreite, griff ich zum erstbesten Parfum, um ein etwaiges Wiederaufleben im Keime zu ersticken, was in sofern Unsinn ist, weil Duftnoten sich ja auch durch einen Nebel guten Geruchs schleichen können. Es war jedoch nicht das oben erwähnte „Fleur du male“, da dieses momentan leer ist, sondern ein recht billiges Parfum, was gerade griffbereit da stand. Je länger ich jedoch über diesen Vorfall nachdachte, desto mehr Lust bekam ich auf mein „Winterparfum“. Dieses ist ein, meines Erachtens, wunderbarer Duft des Italieners Lorenzo Villoresi und trägt den wohlklingenden Namen „Garofano“. Wie der Name schon sagt, ist der Hauptbestandteil Nelke, was dazu führt, dass viele diesen Geruch überhaupt nicht mögen. Oft schon bekam ich gesagt, wenn ich ihn tragend einen Raum betrat, ich röche wie ein Blumenstrauß – oder wie meine Mutter es auszudrücken pflegt: „wie ein wandelndes Grabgesteck“. Dennoch mag ich diesen Duft sehr, da er sehr gut gerade in die Monate November und Dezember passt und bin der Person, die ihn mir einst schenkte (und die sich jetzt sicherlich wundert, dass davon überhaupt noch etwas über ist), sehr dankbar – nicht nur aufgrund des materiellen Wertes. Das eigentlich umwerfende an diesem Parfum aber ist, dass der Duft sich weiterentwickelt und gewissermaßen lebt. Man trägt ihn auf und aufgrund der natürlichen Herstellung ohne synthetische Zusätze kommen zu verschiedenen Zeiten, andere Noten zum Tragen. Ein klassisches Parfum also, dass noch im Gegensatz zu den Semper-Talis-Düften der Kosmetikindustrie über Kopf-, Herz- und Basisnote verfügt. Aber ich schweife ab.
Ich dachte also über „Fleur de l’Age“ im speziellen und die menschliche Vergänglichkeit im Allgemeinen nach (es wird also doch ein novembrig-ernster Beitrag), als mir eine Episode durch den Kopf schoss, die in Patrick Süskinds „Das Parfum“ beschrieben wird: Nachdem Jean-Baptiste Grenouille mehrere Jahre in einer Höhle auf einem Vulkanberg, dem Plomb du Cantal, mitten in Frankreich verbracht hat, gerät er, nachdem er in die Zivilisation zurückgekehrt ist, in die Fänge des naturforschenden Marquis de la Taillade-Espinasse. Dieser hat eine Theorie entwickelt, die einen kausalen Zusammenhang zwischen Vitalität und Erdnähe beschreibt:
„Seine These war, daß sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln könne, da die Erde selbst ständig ein Verwesungsgas verströme, ein sogenanntes »fluidum letale«, welches die Vitalkräfte lähme und über kurz oder lang vollständig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wüchsen also von ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trügen sie ihre wertvollsten Teile himmelwärts: das Korn die Ähre, die Blume ihre Blüte, der Mensch den Kopf; und deshalb müßten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur Erde hinkrümme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch den Zerfallsprozeß nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten.“ (Süskind: Das Parfum)
Wenn diese Theorie auch der etwa zur gleichen Zeit entstandenen und später durch Lavoisier widerlegten Phlogistontheorie ähnelnd heute als überholt und falsch erwiesen ist, so ist es doch ein reizvolles Gedankenspiel, dass sie nicht deswegen falsch sei, weil es ein solches Gas nicht gibt, sondern, das sich der gute Marquis nur geirrt habe und das „fluidum letale“ nicht der Erde entspringe, sondern als „Fleur de l’Age“ ein Produkt unserer selbst wäre. Diesem Gedanken folgend, könnte auch erklärt werden, warum dieser Geruch bei Frauen, die über eine statistisch höhere Lebenserwartung verfügen und ihm vielleicht nur passiv zum Opfer fallen, nicht wahrgenommen wird. Ich möchte jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, dass diese Theorie wirklich nur zur spielerischen Reflexion taugt und jedweder Wissenschaftlichkeit entbehrt.
Dennoch gibt es sie, diese Vorboten der Vergänglichkeit und wir alle kennen sie. Es gibt die offensichtlichen wie etwa graue Haare, Augenfalten oder sonstige Veränderungen der Haut, jedoch eben auch diese nicht greifbaren wie das beschriebene „Fleur de l’Age“. Gerade fällt mir eine Begebenheit ein, die mich damals sehr erstaunt hat: Es war vor Jahren in einer kölner Kneipe, man stand an der Theke und lernte Menschen kennen. Natürlich kommt dann oft die Frage nach dem Alter, welches man der Geselligkeit wegen dann gerne erst einmal schätzen lässt. In einer solchen Situation nahm mir einmal jemand – ich wüsste heute nicht mehr wer es war – die Brille ab und zog mein Augenlid nach unten. Danach schätzte er mein Alter genau. Auf dieses seltsame Verhalten angesprochen, erwiderte er, die Geschwindigkeit des Zurückschnellens des Augenlids sei der beste Indikator für das Alter der Person.
Wie dem auch sei, wenn man solche Merkmale an sich feststellt, lässt dies nachdenklich werden. Man wird daran erinnert, dass alles eitel ist:
„Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.“
(Gryphius: Es ist alles eitel)
Diese Memento-Mori-Momente sind es jedoch, die unserem Leben erst Kraft und Antrieb verleihen. Ein Gedanke übrigens, der auch schon bei meinem akademischen Urgroßvater Martin Heidegger zu finden ist (zur Erläuterung der Verwandtschaft: Heidegger-Gadamer-Drechsler-Merkler). Denn wären wir alle unsterblich wie die Götter, so würde es des sofortigen Handelns nicht bedürfen. Der Gemeinplatz: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf Morgen“ verlöre seine Relevanz, denn wer ewig lebt, kann alles auf einen anderen Tag verschieben, wissend, dass er noch unendlich viel Zeit habe. Man kann sagen, dass das tätige Leben von einer rekursiven Kausalität bestimmt ist. Der nahende Tod, so fern er auch liegen mag, spornt uns an. Natürlich nicht in einem monokausalen Sinne, denn Geiz, Gier, Macht und Wohlstandstreben sind ebenso starke Triebfedern für den Menschen. Doch ist es gerade diese Vergänglichkeit, die uns gewissermaßen unter Druck setzt. Oder, um es der Jahreszeit entsprechend, abschließend mit Rilke auszudrücken:
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“
(Rilke: Herbsttag)
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