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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Mittwoch, November 23, 2005

Auto = Selbst

Als ich am letzten Wochenende auf der Durchreise schnell noch in meiner alten Heimat Halt gemacht habe, hatte ich die seltene Gelegenheit, Einblicke in das Hobby meines Bruders zu erhaschen. Man wird es mir jetzt zwar kaum glauben, jedoch war ich begeistert davon, auch wenn es sich um ein Gebiet handelt, auf dem ich leider überhaupt keine Ahnung habe, da ich von Autos überhaupt nichts verstehe, zumindest nichts von dem, was unterhalb der Motorhaube passiert und wenn man mich fragt, was denn X für ein Auto fährt, so muss man sich nicht wundern, wenn ich antworte: „Ein Blaues.“

Ok, ich bin dann doch noch in der Lage, einen Golf von einer A-Klasse zu unterscheiden und habe früher auch kleiner Dinge selber gemacht wie Waschanlage auffüllen, Ölstand prüfen, Winterreifen aufziehen und so was. Wenn es jedoch dann um das Begreifen der Technik geht, da hört’s dann auch schon auf. Wo liegt der Unterschied zwischen einem Otto- und einem Dieselmotor? Was ist der Hubraum? Wofür ist ein Choke? Alles Fragen, die man mir gerne tausendmal beantworten kann, die ich jedoch deswegen eine Stunde später doch wieder nicht beantworten kann, da ich einfach keinen Zugang finde zu diesem Thema.

Jedenfalls ist das Auto meines Bruders seit einigen Wochen außer Gefecht gesetzt, da er gerade daran herumbastelt: Böser Blick, hier ’ne Blende, da was weg, dort was dran. Das, was mich daran faszinierte ist eben nicht das, was er macht, denn davon habe ich so viel Ahnung wie eine Kuh vom Dampfmangeln, sondern vielmehr das, wie er es tut. Welche Kreativität er an den Tag legt und mit welcher Begeisterung und welchem Elan er das ganze Projekt aufzieht. Dies geht dann sogar soweit, dass er jetzt neulich beim TÜV war, um anzufragen, ob die von ihm vorgenommenen Änderungen so in die Papiere eingetragen werden können, bevor er das ganze zum Ende bringt, oder ob noch Dinge zu beanstanden wären.

In seinem konkreten Falle möchte er sich nämlich gerne, wenn ich das jetzt richtig mitbekommen habe, was ich jedoch bezweifle, einen Schlitz in die Motorhaube machen, damit diese dann noch etwas schnittiger aussieht. Jedoch sagte ihm der zuständige Sachverständige, dass dies nicht rechtens sei, worauf mein Bruder ihm erklärte, dass dies sehr wohl der Fall sei, da er selber Autobesitzer kenne, die eben diese Änderung auch eingetragen bekommen hätten. Da der liebe Herr allerdings weiter auf seinem Standpunkt verharrte, so wird mein Brüderchen jetzt zu einer anderen TÜV-Stelle fahren, von der er weiß, dass ihm dies dort anerkannt werden wird.

Daran sieht man doch einmal mehr, dass es eben doch typisch deutsch ist, erst einmal alles zu verneinen und abzulehnen und selbst dann, wenn man sich doch im Unrecht befindet, noch weiter zu streiten, anstatt man einsieht, dass man sich geirrt hat oder sich vielleicht sogar die Mühe macht etwas zu recherchieren. Wahrscheinlich hatte dieser Herr ebenso wenig Zugang zum Autotuning wie ich, jedoch da er es als Unsinn betrachtet, sorgt er auch dafür, dass man es möglichst nicht durchführen kann.

Auch ich kann diesem ganzen Schnickschnack nicht unbedingt was abgewinnen, außer, dass es nachher toller aussieht. Jedoch war ich sehr beeindruckt, als mir mein Bruder dann die Fotos vom letzten VW-Treffen zeigte und mir die verschiedensten getunten Modelle vorführte. Man könnte fast meinen, es handele sich um eine CSD-ähnliche Veranstaltung, wenn man ihn dann erzählen hört, da andauernd Begriffe fallen, die ich mit anderen Dingen assoziieren würde wie beispielsweise: Lackieren, Tieferlegen, breiteres Rohr, heiße Kiste, Spritzen und Abschleppen. Es freut mich richtig, dass, wenn wir uns schon so unähnlich sind, wir dennoch das gleiche Vokabular nutzen.

Doch ich weiche wieder ab. Dass man durch Tuning einen gewissen Grad an Individualität zum Ausdruck bringen möchte, war mir sehr wohl klar, jedoch war ich sehr verdutzt, dass dies dann soweit geht, dass man seine Autos „cleaned“, was soviel bedeutet wie, dass man alle Anzeichen von Marken und Firmen entfernt. Etwas, was wohl in der schwulen Szene nie Anklang finden würde, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendeine Dolce&Gabana-Husche das Emblem aus dem Hemdkragen trennt, außer um es sich in das neue Billighemd wieder einzunähen.

Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Man distanziert sich von jedwedem Markenfetisch und will somit wirklich individuell sein. Nicht wie das in der Mode der Fall ist, wo man im Kollektiv so individuell ist, dass man sich doch wieder den Vorwurf der Uniformität gefallen lassen muss. Nein, hier geht es darum, dass man das eigene Produkt fährt und sich somit seinen Wagen selbst zusammenstrickt. Ganz wie in alten Zeiten als sich die Nachkriegs- und Wirtschaftswunderfrauen mit Hilfe von Schnittmusterheften ihre eigenen Kollektionen kreierten, wenn dies auch damals durch Sparsamkeit motiviert war und nicht wie beim Autotuning ein nicht zu verachtendes Maß an Mehrkosten verursacht hat.

Daher finde ich es auch so klasse, was er tut, da ich ja sehe, was ihm dieses ganze Unterfangen bedeutet und denke, dass man diese Mühe, die Arbeit und die Liebe die darin steckt auch respektieren und ihm seine Änderungen, die ja nun einmal legal sind, auch eintragen sollte. Denn es ist nicht nur ein unsinniger Zeitvertreib eines gelangweilten Landburschen, sondern mit Akribie und Fingerspitzengefühl umgesetzter Ausdruck des eigenen Selbst und somit einem Kunstwerk gleich. Es kann nun mal nicht jeder Kolumnen schreiben und somit hat jeder sein Steckenpferdchen, das er hegt und pflegt, für das er auch Opfer erbringt, denn mobil ist der kleine Sohn meiner Mutter momentan nur durch ihr Auto und nimmt in Kauf, dass er dieses nicht immer und uneingeschränkt zur Verfügung hat.

Dennoch wird weiter gespachtelt, geschweißt, gelackt, gespritzt, geschliffen und was man sonst noch alles mit Blech machen kann. Ich jedenfalls wünsche ihm jetzt schon viele neidische Blicke und eventuell auch Erfolg bei den Frauen, denn im Grunde genommen, mag dies vielleicht auch eine versteckte Intension sein, da heterosexuelle Männer ihr Potenz ja meist durch ihr Gefährt zum Ausdruck bringen, und hoffe, dass er bald mit Stolz und Freude sein Werk wieder in Betrieb nehmen kann mit allen nötigen Einträgen in den Fahrzeugpapieren, die man dann vielleicht schon einer Kunstwerksbeschreibung gleichsetzen kann.

P.S.: Diese Kolumne ist natürlich, wie sollte es anders sein meinem liebsten kleinen Bruder gewidmet, den ich habe.