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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Sonntag, Oktober 05, 2008

Einheitsgedanken

An diesem verlängerten Wochenende stand ein Thema prominent im Vordergrund: Die Volljährigkeit der deutschen Einheit. 18 Jahre, eine lange Zeit und doch kommt es mir vor, als sei die zeit dahin geflogen. Zumindest teilweise, denn in einer Hinsicht fühle ich mich auch heute noch auf demselben Stand wie damals. Ich begreife es nicht. Das hat jetzt nichts mit Verstehen zu tun, denn verstanden, was da seinerzeit vor sich ging, habe ich es sehr wohl. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, werde ich wohl etwas weiter ausholen müssen.

Als die Mauer fiel war ich gerade einmal sieben Jahre alt. Ein Alter, werden viele jetzt sagen, bei dem ich damals noch gar nicht verstehen konnte, was dort vor sich ging – zumal es manch Erwachsener zu diesem Zeitpunkt wohl nicht verstanden haben mag. In diesem Punkt muss ich auch uneingeschränkt zustimmen, denn zu eben jenem verstehen fehlte mir das Wissen, was ich jedoch sehr wohl, auch ohne Vorbildung mitbekommen habe war die Bedeutung, die Magie des Augenblicks. Ich hätte wohl auch noch ohne die zahlreichen Wiederholungen die Bilder im Kopf, die damals in jedes Wohnzimmer drangen und für das erste einheitliche Erlebnis sorgten. Damals habe ich sie natürlich anders aufgefasst und versucht sie in meinem kindlichen Denken umzuformulieren. Für mich war es damals eine überdimensionierte „Rudi Carrell Show“, denn genau wie in dieser Show, die man seinerzeit noch regelmäßig gemeinsam in der Familie schaute, immer darum bangend, dass für Mutters Taschentuchkonsum hektarweise Regenwald abgeholzt werden müssten, fielen sich nun Menschen in die Arme, die sich jahrzehntelang nicht gesehen hatten. Nur war es eben nicht nur „de Ejdeltraud, die ihre grouße Bruder seit dreije-vierzich Jahre nich mehr gesehe hat“, sondern es waren hunderte, nein tausende, denen dieses Glück dort zuteil wurde.

Das Wissen und das Verständnis fehlten, die Emotionen jedoch waren greifbar. Und auch ein Jahr später, als die erste gesamtdeutsche Nationalmannschaft Fußballweltmeister wurde, war dies ein prägendes Erlebnis, denn gerade für Kinder ist die Wirkung der Bilder größer denn die der Zahlen. (Die Ernüchterung was die Zahlen anbelangte, kam erst 1992 bei der Olympiade, da Deutschland hier im Vergleich zur Vergangenheit sehr schlecht abschnitt, da man nun nicht mehr, wie meine Oma es immer tat, die Medaillen von Ost und West zusammenzählen konnte.) Doch die Zahlen und Fakten wurden dann in den folgenden Jahren nachgereicht, was heißt, dass das Verstehen dieses Ereignisses stetig zunahm und auch heute noch weiter zunimmt, je mehr man sich mit diesem Thema beschäftigt.

Doch genau da setzt nun die oben beschriebene Kluft zwischen Verstehen und Begreifen an. Denn je mehr ich über das damals vorgefallene wusste und weiß, desto ungreifbarer wird es. Mit jedem Faktum, welches sich dazu gesellte, wurde die Dimension der Ereignisse noch größer. Alleine später zu lernen, dass der 2+4-Vertrag das erste Friedensabkommen nach Beendigung des zweiten Weltkrieges war, lud die Bedeutung des Mauerfalls um ein Vielfaches auf und ich musste verstehen lernen, dass die Menschen, die nie in einem Krieg waren und die man nicht damit verband, wie meine Eltern beispielsweise, jedoch auch nie im Frieden gelebt hatten – zumindest nicht, was die rechtliche Situation anbelangt. Wenn man sich nun vorstellt und hofft, dass es nie wieder einen Krieg auf deutschem Boden geben wird, so erkennt man, dass dann seit Freitag das erste Mal Menschen mit vollen Individualrechten in Deutschland ausgestattet sind, die nicht in einem Zustand des Kriegs leben. Dies bezieht sich nicht nur auf das letzte Jahrhundert, sondern auf die gesamte Geschichte, angefangen bei den Germanen, über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und das Kaiserreich bis hin zur Bundesrepublik Deutschland. Nie hat es Menschen gegeben, die in ihrem Leben nicht irgendwann im Unfrieden waren oder auf individuellste Rechte verzichten mussten. So kann man nur hoffen, dass diese erste Generation auch nicht durch kommende Ereignisse diesen Status verliert. Jedenfalls hat sie jedoch die besten Chancen, diesen status quo zu bewahren.

Dieser status quo gründet gewissermaßen ebenfalls auf den Erlebnissen von 89/90. Denn hier liegt auch die Geburtsstunde für unser heutiges Europa. Natürlich sind die europäischen Bündnisse wesentlich älter, jedoch haben sie seither eine andere Qualität. Vormals stabilisierende Zweckgemeinschaften sind heute in konstruktiver Weise Garant eines innereuropäischen Friedens. Aus einer kleinen Gemeinschaft mittel- und westeuropäischer Staaten, die Handel mit einander betreiben, um somit zumindest wirtschaftlich dem Fein im Osten entgegenzustehen, ist eine paneuropäische Gemeinschaft geworden, die sich auch jenseits der Regelungen über Kohle Stahl für einheitliche rechtliche Belange einsetzt und somit nach und nach diesem seiner Natur nach doch sehr anfälligen Körper Europa einen Schutzschild schmiedet, der ihn hoffentlich vor künftigen Angriffen zu verteidigen weiß.

Man sagt, dass menschliche Gehirn sei zu klein, um sich selber zu verstehen, um wie viel schwerer ist es dann historische Zusammenhänge dieses Ausmaßes zu verstehen. Wobei das Verstehen, ja noch dar einfachere Bewusstseinsprozess ist. Will man es jedoch begreifen, verinnerlichen und für sich selber fassbar machen, so gelangt man an seine Grenzen. Es ist nicht greif-bar, es ist so abstrakt, dass man es nicht zu packen bekommt und fassungs-los mit offenem Mund zurückbleibt. Ein beklemmendes Gefühl der eigenen Nichtigkeit stellt sich ein angesichts solcher Gedanken. Das, was man selbst in seinem Leben erreicht hat, egal wie groß es was und egal mit wie viel Stolz es einen erfüllte, scheint dagegen lächerlicher Kinderkram und auch die Aktionen der damaligen Protagonisten, auf die man dieses Wunder heute gerne projiziert, sind nichts dagegen, denn sie haben zwar damals dazu beigetragen, jedoch jeder für sich, nur in einem kleinen, bescheidenen Maße.

Dem Ganzen lag auch, das wissen wir zumindest aus der Rücksicht, eine gewisse historische Zwangsläufigkeit zugrunde. Hier hat Geschichte das geschrieben, zu dessen Formulierung kein Mensch in der Lage gewesen wäre. Wäre ich nicht so rational, wie ich es bin, wäre dies ein guter Startpunkt für mich, einen Gottesbeweis zu führen, denn obwohl die damaligen Entscheidungen, die Taten, das Verhalten der Beteiligten im einzelnen allzu menschlich waren, so war das daraus resultierende Gesamtergebnis in einem solchen Maße unmenschlich, beziehungsweise übermenschlich, dass sich dieser große Plan nicht mehr in einfachen Zahlen und Fakten ausdrücken lässt.

Die einzigen Auswege aus dieser inneren Beklemmung, die sich zwangsläufig einstellt, wenn man darüber nachdenkt sind Hoffnung und Dankbarkeit. Hoffnung, dass das damals Geschenkte künftig keinen Schaden erleiden muss und Dankbarkeit, dass man selbst es miterleben durfte. Diese wird solange jene sich erfüllt stetig abnehmen und es wird immer mehr Erwachsende geben, die die heutigen Verhältnisse als Selbstverständlichkeit ansehen. Doch sollten auch künftige Generationen inmitten tagespolitischer Diskurse, deren Wichtigkeit ich an dieser Stelle keineswegs in Frage stellen möchte, ab und an inne halten und sich besinnen, woher wir denn kommen und wie das Davor ausgehen hat. So möchte ich mit Goethe schließen, der es wie es kaum ein anderer auf den Punkt gebracht hat:

„Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.“

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