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Benjamin Merkler, geboren 1982, lebte 2002 bis 2007 in Köln, wo er Germanistik, Anglistik und Philosophie auf Magister studierte. Von 2007 bis 2009 studierte er an der Universität Heidelberg Anglistik, Philosophie und öffentliches Recht. Seit 2010 lebt er in Berlin und hat seine Promotion an der Technischen Universität Tallinn begonnen. Neben seinem Studium war er als Forschungsassistent sowie in einer PR/Marketing-Agentur tätig, schrieb gelegentlich Artikel und übersetzte. Zuvor war er schon in der Softwareentwicklung, in Marketing, Vertrieb und in der Gastronomie tätig. Privat trat er in seiner kölner Zeit ab und zu als Cressida Treulos (Travestie mit Livegesang) auf und stand im Bereich Kleinkunst und Comedy auf der Bühne. Überdies war er Protagonist in einem Dokumentarfilm.

Freitag, Mai 26, 2006

...der werfe den ersten Stein

Gerade habe ich zum zweiten Mal den Film „Nichts als die Wahrheit“ (Richter, 1999) mit Götz George in der Hauptrolle des KZ-Arztes Josef Mengele gesehen und genau wie damals, kurz nach dem Erscheinen in den deutschen Kinos, rührt sich in mir eine Mischung aus Erschütterung, Sprachlosigkeit und Faszination.

Es geht in diesem Meisterwerk um einen fiktiven Prozess angesiedelt in den 90er Jahren gegen den Todesengel von Auschwitz, der im Gegensatz zur Realität nicht 1979 verstarb, sondern sich nun vor einem Gericht einem Teil seiner damaligen Greultaten stellen muss.

Die im Film aufgezeigte Verteidigungstaktik für Mengele zeichnet sich durch zwei Hauptargumente aus. Zum einen, dass er ein Kind seiner Zeit war und zum zweiten, dass er Euthanasie betrieb, indem er den Todgeweihten einen angenehmeren Ausgang aus ihrem Leid bescherte. Doch selbst sein Verteidiger klagt ihn zum Ende seines Plädoyers zurecht als einen der unmenschlichsten und grausamsten Verbrecher der Menschheit an und plädiert für die lebenslange Strafe.

Jeder der den Film nicht gesehen hat, sollte ihn sich unbedingt anschauen und dies nicht nur aufgrund der Tatsache, dass Götz George hier seine bisher größte schauspielerische Glanzleistung vollbringt. Sondern vielmehr, weil einen der Film nachdenken lässt. Nachdenken über Moral und über das menschliche Handeln.

Am beeindruckensten ist der Abspann, in dem Mengele selbst sein Plädoyer hält und der in der Frage endet: „Und steckt nicht auch ein Teil von mir in Ihnen?“

Es ist klar: Josef Mengele war ein Verbrecher und ebenso klar ist, dass er gegen jede Moral verstoßen hat und es keine Entschuldigung für seine Taten geben kann und darf und dennoch muss sich ein jeder, der ihn verurteilt für sich selber fragen: Hätte ich nicht vielleicht auch so gehandelt?

Meine individuelle Antwort dazu ist wahrheitsgemäß: Ich weiß es nicht.

Und es kotzt mich an, wenn ich weiß, dass die meisten Menschen sofort sagen würden: „Ich hätte das niemals getan.“ Wer keine fünf Minuten braucht nach diesem Film um eine solche Aussage zu tätigen zeigt, dass er nicht in der Lage ist sich aus seinem Weltbild herauszubegeben und sich selbst zu hinterfragen.

Wenn man von Kindesbeinen an dazu erzogen wird und dies auch wissenschaftlich nachweisbar ist, dass es verschiedene Stufen des Menschseins, verschiedene Stufen lebenswerten Lebens gibt und man in einem System lebt, nach dessen Grundprinzipien ein solches Handeln nicht nur tolerabel sonder wünschenswert ist, hat man dann die distanzierte und moralisch differenzierte Sichtweise eines Menschen der Nachkriegszeit? Ich glaube nicht und ich glaube weiterhin, dass es auch heute noch genug Menschen gibt, die den gleichen Fehler erneut begehen würden, wenn es die Zeit von ihnen verlangte.

Hier sei jetzt einmal betont, es geht mir in diesem Beitrag nicht um das Ausmaß dieser Taten, sondern lediglich um Fragen des menschlichen Handelns, um den Abrund in uns selbst, in den wir ungerne schauen und den wir gerne verbergen – kurz um das Böse im Menschen. Auch wenn die nachfolgenden Vergleiche natürlich in keiner Weise mit den Taten eine Josef Mengele vergleichbar sind, so haben sie streng betrachtet dennoch den selben Kern – unmenschlich wider die Moral zu handeln aufgrund scheinbar sinnvoller Motive, denn diese gibt es in solchen Situationen immer. Und somit Frage ich:

Was hätten die getan, die heute Kosmetika und Medikamente benutzen, die an wehrlosen Tieren getestet wurden?

Was hätten die getan, die heute Impfstoffe verherrlichen, die mit Hilfe absichtlicher Infektionen von Tieren entwickelt wurden?

Was hätten die getan, die auch heute vor nichts zurückschrecken um Karriere zu machen?

Was hätten die getan, die heute mit einer Konferenz tausende von Menschen aufgrund von Unternehmenszahlen in die Arbeitslosigkeit befördern?

Was hätten die getan, die anderen immer nach dem Mund reden und deren Fähnchen mehrmals täglich in einem anderen Wind hängt?

Und vor allem: Was hätten die getan, die heute wie selbstverständlich sagen, dass sie damals im Widerstand gewesen wären und gegen ein solch mächtiges Regime rebelliert hätten?

Ich denke gerade die, die sich immer political correct verhalten, hätten sich auch seinerzeit political correct verhalten – nur, dass ihr handeln dann am anderen Ende der moralischen Skala gestanden hätte.

Wer kann sich schon vom Bösen freisprechen?

Wer hat nicht schon einmal eine rassistische Bemerkung welcher Art auch immer geäußert oder zumindest einen solchen Gedanken gehabt?

Wer hat nicht schon einmal Fehler vertuscht, Hinter dem Rücken anderer intregiert?

Wer hat nicht schon einmal eine kleine Illegalität des Alltags begangen?

Und die Motive sind immer die gleichen: Macht, Geld, Karriere, Ansehen und Ruhm

Dies führt mich nun zu einem sehr erschreckenden Gedanken, der mich mein eigenes Handeln gänzlich in Frage stellen lässt: Die Menschen, die damals direkt oder indirekt an den Greultaten beteiligt waren oder sie einfach haben geschehen lassen, haben unter dem Stern ihrer Zeit gehandelt und ihr Handeln nach diesem ausgerichtet – ganz wie ich heutzutage. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass der Stern ein anderer ist.

Doch ist mein Handeln nicht von denselben Motiven angetrieben? Ich denke schon, denn ganz tief in mir muss ich mir eingestehen, dass mein Handeln nur ein Ziel hat Ansehen, Macht und Ruhm.

Meine Offenheit, meine Ehrlichkeit, meine Bereitschaft anderen zu helfen und ihnen jederzeit mit Rat zur Seite zu stehen zielt nur darauf ab, dass meine Gier befriedigt wird. Meine Gier danach, dass Menschen vor mir den Hut ziehen, mich respektieren und ich das Gefühl habe, etwas Besonderes zu sein, mir Aufmerksamkeit zu verschaffen und mich in ein gutes Licht zu rücken. Und mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust und Tränen in den Augen während ich dies hier niederschreibe, stelle ich fest, dass auch ich nur Egoist bin – getrieben von der Vorstellung, einen Auftrag zu haben, der mich von anderen unterscheidet und mich aus der breiten Masse erhebt.

Doch muss ich mich eben an diesem Punkt nicht fragen, welchen Weg ich wohl in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eingeschlagen hätte? Hätte ich wirklich die Weitsicht gehabt, mir selbst zu sagen, man wird deine Taten dereinst eher würdigen, wenn du nicht mit machst. An einem Tag, der in ferner und eventuell nicht mehr erlebbarer Zukunft liegt? Oder hätte ich nicht vielleicht auch dafür gesort zu Ruhm und Ansehen zu Lebzeiten zu gelangen und mich meiner Umwelt entsprechend besonders hervorzutun?

Wissend, dass ich heute oftmals mit einem gewissen Pioniergeist einen Schritt weiter gehe als die Moral der Allgemeinheit, so kann und darf ich mich nicht davon freisprechen, dass ich nicht damals auch einen Schritt weiter gegangen wäre als die Moral des Mainstreams, die sich damals jedoch durch das genaue Gegenteil auszeichnete.

Da ich mich nicht nur als Pionier sondern auch oft als Rebellen wahrnehme, so kann ich mir auch vorstellen, dass ich damals im Widerstand gewesen wäre, doch ist mir dieser Gedanke zu bequem, fordert nichts von mir und ist somit nicht in der Lage mein Gemüt zu bewegen. Zudem kann ich dies nicht beurteilen, so lange ich nie hungern meiner Freiheit beraubt wurde oder man mir körperliches Leid zugefügt hat, was seinerzeit zwangsläufige Begleiterscheinungen guter Taten waren. Natürlich wären wir alle gerne eine Sofie Scholl gewesen, aber hätten wir auch ihr Durchhaltevermögen und ihre Stärke besessen? Und bedarf es nicht derselben Stärke, eine solche Schuld wie sie sich ein Mengele damals aufgeladen hat, auszuhalten?

Zusammenfassend muss ich mir entgegen meinen moralischen Werten und meinem humanistisch geprägten Weltbild eingestehen, dass ich nicht an das Gute im Menschen glaube, denn ich glaube nicht einmal an das Gute in mir selbst.

Wissend, dass die Nachfrage immer das Angebot beeinflusst, kann ich nicht behaupten, dass ich aus mir selbst heraus gut bin, sondern muss mir selbst den Vorwurf gefallen lassen, dass ich nur gut bin, weil die Zeit gerade Gutes von mir verlangt.

Doch was wäre, wenn am morgigen Tage das Schlechte nachgefragt würde?

P.S.: Bisher ist mir nie ein Beitrag schwere gefallen und gerade habe ich das erste Mal Angst einen Beitrag online zu stellen, da er mich zu sehr bewegt.

2 Comments:

Anonymous Anonym said...

moin,

bin zufällig auf die seite gestossen, und habe zufällig diesen "Beitrag" gelesen.
Zeugt von überragender Intelligenz und einer unglaublichen Vorstellungskraft und Weitsicht, die ich mir für die meisten (99,999997%?) "Menschen" wünsche...ein Meisterwerk, unanfechtbar, bar jeglicher Kritik..weiter so.

3:45 AM  
Anonymous Anonym said...

Vielleicht darf ich dieser glänzenden Analyse menschlichen (Fehl-)Verhaltens noch einen schlichten Gedanken anfügen. Ich möchte der Motivaufzählung gerne noch drei weitere hinzufügen: Neid, Bequemlichkeit und Angst. (Die ersten beiden lasse ich außen vor, um den Rahmen eines "comments" nicht sprengen.) Das Motiv "Angst" scheint mir für die ganz überwiegende Mehrzahl der Menschen das bestimmende Motiv zu sein, sich nicht aus dem Mainstream heraus zu wagen. Will man (im Großen wie im Kleinen) als Pionier oder Rebelle aus der "grauen Masse" hervortreten, so setzt dass eine gewisse geistige Eigenständigkeit voraus. Man muss in der Lage sein, mit großem Vorstellungsvermögen etwas Neues zu bieten (oder zumindest etwas Altes zu entrosten und abzustauben, so dass es für "neu" gehalten wird). Die meisten Menschen (ich bin fast geneigt, die nebenan genannten 99,999997 % auch hier zu verwenden) kommen in wesentlichen Fragen des menschlichen Zusammenlebens nicht eigenständig zu Auffassungen, die von der "Moral des Mainstreams" abweichen, weil sie es nicht gelernt haben zu denken. Für diese Menschen stellt sich gar nicht die Frage, ob Sie Pionier oder Rebelle sein wollen. Sie werden kaum durch besondere geistige Leistungen (die zutreffende Vorhersage des Ausgangs eines Fußballspiels vermag ich nicht als geistige Leistung zu qualifizieren) auffallen. Für diese Menschen ist es vielmehr bedeutsam, nicht unbeabsichtigt aufzufallen. Ein Abweichen vom staatlich oder kirchlich verordneten Mainstream, vom Mainstream am Arbeitsplatz oder in der Clique wurde und wird tunlichst, nicht selten bis hin zur Selbstverleugnung, vermieden. Der Grund dafür ist die schlichte Angst. Die Angst vor körperlicher Gewalt, die Angst vor verbalen Angriffen, die Angst, zB einer sozialen Gruppe zugerechnet zu werden, die sich gerade im Zielfeuer des Mainstreams befindet. Eine damals wie heute häufig genutzte Taktik, nicht ungewollt aus dem Mainstream herauszufallen, ist es, durch besonders lautes Herausbrüllen dummer Parolen oder durch besonders brutales Vorgehen seine eigene Stromlinienförmigkeit zu unterstreichen (nicht selten wird gerade das von der breiten Mehrheit als Pioniertat angesehen); dazu gehört nicht viel Verstand. Ich möchte nicht gerne missverstanden werden: Es geht mir nicht darum, hier viele Menschen pauschal als dumm zu brandmarken (die meisten tun das eh selbst). Denn letztendlich, und damit bin ich bei den Überlegungen des Blogverfassers, wird auch derjenige, der fähig ist, zu einer abweichenden Meinung zu gelangen, mit seiner Angst konfrontiert werden und, wenn er sich nicht zum Rebellendasein entschließt, zu den gleichen Taktiken greifen; nur vielleicht ausgereifter und perfider.

12:58 PM  

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